In sueßer Ruh
Faszination aus, dass er über andere Möglichkeiten nachsann, wie er sie absichtlich hervorrufen konnte. Sie war aufreizend – und er fragte sich, ob sie das wusste.
»Also, du kannst nicht den ganzen Tag ohne Frühstück rumlaufen«, erklärte sie. »Das hab ich dir schon hundertmal gesagt. Also, was soll’s jetzt sein, Eier oder Haferflocken?«
Flossies Beharren auf so banalen Ritualen wie Frühstücken hatte etwas Beruhigendes. Sie war so anders als seine Eltern mit ihrem philanthropischen Eifer und ihrer Weltverbesserei. Er hatte die Nase voll von ihrem Gutmenschentum. Was hatte es je wirklich Gutes bewirkt? Ständig flogen sie wohin, um sich um irgendwelche armen Waisen zu kümmern, und überließen ihre eigenen Kinder in dem schicken Haus in Murray Hill dem Gefühl, vernachlässigt und im Stich gelassen worden zu sein. Und jetzt war Candy tot, und es gab nur noch ihn.
Aber Flossie wusste, was wichtig war: Eier oder Haferflocken. Sie interessierte sich für ihn, ihr war es nicht egal, ob er den Tag mit oder ohne etwas im Magen durchstand.
»Ich nehme Eier und Haferflocken«, sagte er und lehnte sich mit dem selbstzufriedenen Lächeln eines Ölscheichs im Stuhl zurück.
Flossie grinste und entblößte dabei rosafarbenes Zahnfleisch über ihren langen, vorstehenden Zähnen.
»So kenn ich meinen Jungen!«
François sah ihr zu, wie sie durch die Küche wuselte und, vergnügt vor sich hinsummend, sein Frühstück machte. Wenn doch bloß alle ein bisschen mehr wie Flossie sein könnten, dachte er. Dann wäre die Welt bestimmt ein besserer Ort.
KAPITEL 34
Die Stadt Philadelphia litt an einer Identitätskrise. Sie rühmte sich ihrer glorreichen Vergangenheit als Hort der Amerikanischen Revolution, schließlich war sie Gastgeberin des Verfassungskonvents und der Unterzeichnung der Verfassung gewesen sowie die Heimat des großen Benjamin Franklin höchstpersönlich. Und zu einer Zeit, in der New York sich den Briten ergeben hatte, blieb sie eine Festung der konservativen Tories. Trotz alldem litt die »Stadt der Bruderliebe« an einem chronischen Fall von geringem Selbstwertgefühl und hegte ihrem glamouröseren, berühmteren Ostküsten-Vetter gegenüber immer Neid und Groll. Und darum genoss es Kathy Azarian, dies einigen der unausstehlicheren Bekannten ihres Vaters von Zeit zu Zeit unter die Nase zu reiben.
Sie war auf dem Weg zu einem Galadinner für Fred Bremer, einen renommierten Forensiker, der so viele ungeklärte Fälle geknackt hatte, dass sein Name über die Strafverfolgungsbehörden hinaus bekannt war. Er war in Fernsehsendungen über wahre Kriminalfälle aufgetreten, und einer der Fälle, den er zu lösen half, wurde Thema eines abendfüllenden Dokumentarfilms. Kathys Vater kannte und respektierte Fred seit Jahren, und das Philadelphia Police Department hatte beschlossen, Bremer zu ehren, indem man ihm einen Preis für sein Lebenswerk verlieh. Da Antrias Azarian bei einer Reihe von Fällen eng mit Bremer zusammengearbeitet hatte, war er ausgewählt worden, ihm die Auszeichnung zu überreichen. Selbstverständlich lud Dr. Azarian seine Tochter ein, ihn zu begleiten.
Sie hatte Lee aufgefordert, mit ihnen zu kommen, doch er hatte noch immer Fieber und sich nach seiner morgendlichen Vorlesung am John Jay College gleich wieder ins Bett gelegt – zumindest hatte er das gesagt. Manchmal, wenn er in einem Stimmungstief war, erzählte er ihr das nicht. Deshalb war sie nicht ganz sicher, was tatsächlich los war. Er schämte sich für seine Krankheit, und obwohl sie ihm versichert hatte, dass sie es nachempfinden könne, war die Wahrheit, dass sie es nicht tat. Sie war noch nie in ihrem Leben deprimiert gewesen, nicht einmal nach dem Tod ihrer Mutter. Sehr traurig – aber nicht deprimiert. Da gab es einen Unterschied, wusste sie, weil sie ihn hatte leiden sehen. Gelegentlich wünschte sie sich, selbst einmal zu erfahren, was er durchmachte. Meist war sie allerdings einfach nur dankbar, dass sie es nicht tat. Sie wusste nicht, ob sie damit allzu gut umgehen könnte, und nach dem, was sie gelesen hatte, musste es ziemlich schrecklich sein.
Kathy sah aus dem Fenster des Taxis auf die regennassen Straßen hinaus, die Bürgersteige glänzten und funkelten im Laternenlicht. Sie seufzte und lehnte sich im Sitz zurück. Sie liebte Regennächte und wünschte, sie würde bei sich daheim aus dem Fenster starren, statt an einem offiziellen Abendessen teilzunehmen. Sie liebte ihren Vater und hatte sich von seiner
Weitere Kostenlose Bücher