In tiefster Dunkelheit
Jahre hatte sie ihn kaum noch bemerkt, hatte ihn in den selten genutzten Regionen ihrer grauen Zellen begraben, bis zu diesem Treffen vor zehn Jahren. Anscheinend hatte sie ihn doch nicht gut genug begraben. Nicht einmal eine Heirat hatte geholfen.
Was wollte sie hier eigentlich?
Jess stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände. Ihre Beine waren eingeschlafen, weil sie so lange im Schneidersitz gesessen hatte. Aber das erklärte nicht die plötzliche Gehirnstarre.
Sie hatte einen Abschluss in Psychologie. Die Antwort auf ihre selbstanalysierende Frage war einfach. Sie hatte einen herben Rückschlag erlitten. Wenn sie ehrlich war, definierte sie sich über ihre Karriere, weil sie weder Mann noch Kinder hatte. Die Entscheidung, dass die Karriere an erster Stelle kam, hatte sie schon im letzten Jahr der Highschool getroffen. Aber damals hatte sie noch Dan gehabt. Und damals schienen ihr Dan und ihre Karriere vollauf zu genügen.
Zwanzig Jahre. Zwei Jahrzehnte. Sie hatte so getan, als würde ihr die Arbeit reichen. Zwei Jahre lang im Sommer ein Praktikum, dann die Ausbildung als Agentin. Sie hatte alle möglichen zeitlich begrenzten Jobs bei der Polizei übernommen, während sie ihren Abschluss an der Uni machte und darauf wartete, das vom FBI geforderte Mindestalter zu erreichen.
Ihr Leben war aus den Fugen geraten. War das der Grund, warum sie bei diesem letzten Fall die Grenze überschritten hatte? Ihre Schwester schwor, dass sie stolz auf Jess war. Und wenn ihre Eltern noch lebten, wären sie es ebenfalls. Ganz egal, was sie tat. Selbst als Jess einen Mann geheiratet hatte, den ihre Schwester erst am Abend vor der Hochzeit kennenlernte, hatte sie das akzeptiert. Selbst als sie ihr gebeichtet hatte, dass sie keine Kinder wollte, weil die ihrer Karriere im Weg stehen könnten. Ihre Schwester, aus der nun ihre Familie bestand, liebte sie bedingungslos.
Wie kam es, dass niemand sonst sie genug geliebt hatte? Nicht Dan und auch nicht Wesley.
Und jetzt war sie hier. Zweiundvierzig und allein.
Jess verdrehte die Augen und stemmte sich vom Boden hoch. Sie verzog das Gesicht, als sie durchs Zimmer lief, bis das Gefühl wieder in ihre Beine zurückkehrte. Wenn sie begann, sich selbst zu analysieren, war es Zeit, ins Bett zu gehen.
Die Fakten waren einfach. Sie war allein, weil kein Mann hinter ihrer Arbeit zurückstehen wollte. Sie hatte keine Kinder, weil der Beruf für sie an erster Stelle stand und sie mehr als die Hälfte ihres Berufslebens damit verbrachte hatte, das Angesicht des Bösen zu studieren. Vielleicht war das irgendwann eher das Motiv gewesen, kinderlos zu bleiben, und nicht der Wunsch, die Karriereleiter hinaufzuklettern. Wie konnte jemand ein Kind in diese Welt setzen, wenn er wusste, was sie wusste? Wie könnte sie ein Kind wegen ihrer Arbeit in Gefahr bringen? Sie konnte es nicht tun.
Sie würde es nicht tun.
Es war schlimm genug, dass sie sich jetzt, da Spears in Freiheit war, um ihre Schwester und deren Familie Sorgen machen musste.
Und um Dan.
Jess nahm ihre Notizen und die Akte, stopfte alles in ihre Tasche und schlang sie sich über die Schulter. Vielleicht würde sie wieder eine von diesen schicken Wasserflaschen aus dem Kühlschrank mit in ihr Zimmer nehmen.
Als sie leise durch das riesige Haus tappte, befand sie, dass dies kein Heim, sondern ein Museum war.
Das Katherine-Burnett-Museum.
Sie holte sich eine Flasche aus dem Kühlschrank, der genauso aussah wie Dans, nur größer. Auch die Küche war gigantisch, mit meterweise Schrankflächen und Granit. Niemand brauchte eine so große Küche.
Sie schlenderte durch das an die Küche grenzende Zimmer. Vor dem mit Marmor und Granit verzierten Kamin blieb sie stehen. Auf dem Sims reihten sich zahlreiche Bilderrahmen. Dan. Seine Eltern. Großeltern. Tanten und Onkel. Oh, und ein Bild mit Annette und Andrea. Sieh an. Jess zog die gerahmten Fotos hin und her wie Figuren auf einem Schachbrett. Ein paar der kleineren schob sie ganz nach hinten.
Auf einmal übermütig geworden, wanderte sie im Zimmer hin und her und verstellte und vertauschte ein paar kleinere Gegenstände. Dann trat sie zurück und betrachtete ihr Werk. »Besser.«
Katherine würde einen Anfall kriegen, wenn sie nach Hause kam.
Auf Zehenspitzen schlich Jess durch die große Eingangshalle. Das Haus war zwar nur zweigeschossig, aber es erstreckte sich über einen Großteil des weitläufigen baumbestandenen Grundstücks. Die Schlafzimmer befanden
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