In Todesangst
Im Anhang befand sich eine Bilddatei.
Plötzlich hatte ich Angst, sie zu öffnen. Bislang hatte ich um jeden Preis glauben wollen, dass Yolanda Mills meine Tochter wiedererkannt hatte. Ich hatte jeden Irrtum ausgeschlossen. Meine Sachen waren gepackt. Ich war auf dem Sprung nach Seattle, um meine Tochter nach Hause zu holen.
Was aber, wenn sich nun herausstellte, dass gar nicht Syd auf dem Foto war? Sondern irgendein Mädchen, das ich nie zuvor gesehen hatte?
Aber mir blieb ohnehin keine Wahl. Ich klickte zweimal auf den angehängten Schnappschuss, und dann hatte ich ihn auf dem Bildschirm.
Ich stieß einen so lauten Jubelschrei aus, dass er wahrscheinlich noch drei Straßen weiter zu hören war.
Es war meine Tochter.
Ja, es war Syd.
ZEHN
Das Foto war alles andere als perfekt, nicht mehr als eine leicht verschwommene Momentaufnahme. Im Hintergrund sah man eine beigefarbene Wand und ein kleines, quadratisches Glasfenster mit der Aufschrift »FEUERLÖSCHER«, wobei das erste E fehlte. Die Lettern waren deutlicher zu erkennen als Syd selbst, die sich von rechts nach links bewegte. Sie war im Profil zu sehen, den Kopf leicht gesenkt. Das blonde Haar verdeckte ihr Gesicht, und eigentlich war kaum mehr als ihre Nase zu erkennen. Trotzdem war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich meine Tochter vor mir hatte.
Außerdem gab es noch einen weiteren Anhaltspunkt – das luftige, korallenrote, zerknitterte Tuch, das sie sich modisch um den Hals geschlungen hatte. Susanne hatte es ihr vor ein paar Monaten gekauft, als sie zum Shoppen in New York gewesen waren.
Susanne und Syd pflegten stets darüber zu witzeln, dass ich es nicht mal merken würde, wenn sie in einem neon-farbenen Brautkleid vor mir stünden. Ebenso blind war ich für neuen Lidschatten oder Nagellack. Aber ich erinnerte mich genau an das erste Mal, als sie dieses Halstuch getragen hatte, an das grelle Rot, das in scharfem Kontrast zu ihrem blonden Haar stand.
»Todschick«, hatte ich gesagt.
»Du merkst aber auch alles«, lautete ihre Antwort.
Das auffällige Halstuch, die Körperhaltung, die Nase – nein, es bestand nicht der geringste Zweifel, dass es Syd war.
Ich sah noch einmal nach, ob ich alles Notwendige für meinen Trip dabeihatte. Bevor ich das Haus verließ, schickte ich Yolanda Mills noch eine kurze E-Mail: »Sie ist es. Komme heute Abend in Seattle an. Nochmals vielen Dank.«
Kurz nach zehn fuhr ich bei Riverside Honda vor; wie üblich war um diese Uhrzeit noch nicht viel los. Andy Hertz saß an seinem Schreibtisch, doch statt ein paar Worte mit ihm zu wechseln, ging ich direkt zu Laura Cantrells Büro und klopfte an der offen stehenden Tür.
»Hi«, sagte ich.
Sie sah von einem Bericht über die jüngsten Verkaufszahlen auf und nahm ihre Lesebrille ab. »Tim«, sagte sie.
»Ich nehme mir ein paar Tage frei«, sagte ich, ohne ihr Einverständnis abzuwarten.
Ihre makellos gezupften Augenbrauen hoben sich. »Oh.«
»Ich habe einen Tipp bekommen, wo Syd stecken könnte«, sagte ich. »Ich fliege nach Seattle.«
Laura erhob sich und kam um den Tisch herum. »Du hast sie gefunden?«
»Eine Streetworkerin aus Seattle hat sie zweifelsfrei identifiziert. Syd war zweimal in einem Zentrum für obdachlose Jugendliche.«
»Da muss dir doch ein Stein vom Herzen gefallen sein«, sagte sie. »Endlich sicher sein zu können, dass sie nicht …«
»Ja«, sagte ich. Eins war mir in den letzten Wochen klar geworden: dass ich lieber ein Leben in Ungewissheit führen wollte, als vom Tod meiner Tochter zu erfahren. »Mein Flug geht in knapp drei Stunden. Möglich, dass ich nur ein, zwei Tage weg bin, aber vielleicht dauert es auch länger. Ich weiß es einfach nicht.«
Laura nickte. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Ich traute meinen Ohren nicht. War das dieselbe Laura, die mir gerade erst angedroht hatte, mich hinauszuwerfen, wenn ich nicht schleunigst ein paar Wagen verkaufte?
»Danke«, sagte ich.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Was?«
»Dass ich dir neulich derart eingeheizt habe.« Sie trat noch einen Schritt näher, so dass mir ihr Parfüm in die Nase stieg.
»Ach was«, sagte ich. »Du tust auch nur deinen Job.«
»Druck von oben«, sagte sie. »Du weißt, wie’s läuft. Am Ende geht’s immer nur um die Absatzzahlen. Als du noch dein eigenes Autohaus hattest, hast du deinen Mitarbeitern ab und zu sicher auch ein paar Takte angesagt.«
Womit sie unwillkürlich den Finger in die Wunde legte. Ich war nämlich
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