In Todesangst
zusammengezurrt hatte, damit ihr die viel zu weite Hose nicht von den Hüften rutschte.
»Ja?«, sagte sie.
»Tim Blake«, sagte ich und streckte die rechte Hand aus. Doch statt mir ebenfalls die rechte zu reichen, hielt sie mir die linke Hand hin. Ihr fehlte der rechte Arm; der Ärmel hing schlaff herab. Ich war heilfroh, dass ich sie nicht »Lefty« genannt hatte.
»Morgan Donovan«, stellte sie sich vor. »Willkommen in meinem Reich.« Mit majestätischer Geste deutete sie auf das Chaos auf ihrem Schreibtisch. »Sie sind auf der Suche nach jemandem?«
»Eigentlich suche ich sogar nach zwei Personen«, sagte ich. »Nach meiner Tochter Sydney. Und nach einer Frau, die hier arbeitet. Yolanda Mills heißt sie.«
»Es tut mir leid, Mr Blake. Den Namen höre ich heute zum ersten Mal.«
»Sie hat mir gesagt, dass sie hier arbeitet. Oder gibt es noch ein anderes Zentrum für Jugendliche in Not, das Second Chance heißt?«
»Vielleicht in einem Paralleluniversum«, erwiderte Morgan Donovan. »Aber nicht hier in Seattle.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich.
»Vielleicht haben Sie den Namen falsch verstanden. Vielleicht handelt es sich ja um eine andere Anlaufstelle für Kids.«
»Nein, da bin ich mir hundertprozentig sicher«, sagte ich und zog die Bilder von Syd heraus. »Das ist meine Tochter Sydney. Yolanda Mills hat mir gesagt, sie hätte Syd hier gesehen. Zweimal.«
Morgan fasste die Fotos genau ins Auge. »Ich kann mir Gesichter ziemlich gut merken«, sagte sie dann. »Aber dieses Mädchen habe ich noch nie gesehen. Und so hübsch, wie sie ist, würde ich mich unter Garantie an sie erinnern.« Sie verdrehte die Augen. »Und Len erst recht, darauf können Sie sich verlassen.«
»Aber es wäre doch möglich, dass Syd hier war, während Sie mit Büroarbeit beschäftigt waren.«
Sie nickte. »Durchaus«, räumte sie ein. »Aber wenn hier eine Yolanda Mills arbeiten würde, wüsste ich das genau. Ich unterzeichne hier nämlich die Gehaltsschecks.«
»Vielleicht arbeitet sie ja ehrenamtlich hier. Beschäftigen Sie auch ehrenamtliche Mitarbeiter?«
»Ja. Aber niemanden, der so heißt.«
Ich kramte den Zettel heraus, auf dem ich mir die Adresse des Second Chance, meine Flugdaten und diverse Telefonnummern notiert hatte. »Hier, das ist die Nummer von Yolanda Mills.«
Morgan kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Sagt mir gar nichts.« »Das ist ihre Handynummer«, sagte ich. »Ich habe sie gestern Abend angerufen und mit ihr gesprochen. Sie hat mir erzählt, sie würde sich hier um die Mahlzeiten kümmern.«
Morgan Donovan sah mich nur wortlos an.
»Moment«, sagte ich, förderte mein Handy zutage und tippte die Nummern ein. »So, jetzt können Sie gleich selbst mit ihr telefonieren.«
»Warum nicht?«, sagte sie müde. »Ich habe ja nichts Wichtigeres zu tun.«
Ich ließ es ein gutes Dutzend Mal klingeln, aber niemand ging dran. Es sprang auch keine Voicemail an. Ich beendete den Anruf und versuchte es noch mal, ließ es abermals endlos klingeln – vergebens.
Morgan sah mich besorgt an. »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte sie.
ZWÖLF
Plötzlich hatte ich das Gefühl, all das schon einmal erlebt zu haben. Erst war da die Sache mit dem Hotel gewesen, in dem Syd gar nicht gearbeitet hatte. Und jetzt kam plötzlich die mysteriöse Yolanda hinzu, die keiner im Second Chance kannte.
»Wollen Sie sich setzen?«, fragte Morgan.
»Irgendwas ist hier faul«, sagte ich. Meine Knie waren weich wie Gummi, und mein Magen krampfte sich jäh zusammen. »Ich verstehe das alles nicht.«
Morgan setzte sich, lehnte sich zurück und gab einen müden Seufzer von sich. »Am besten, Sie fangen ganz von vorne an.«
Und so erzählte ich ihr alles. Wie Syd von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden war. Von der Sache mit dem Hotel, in dem sie angeblich gearbeitet hatte. Von ihrem Wagen, der auf einem Wal-Mart-Parkplatz gefunden worden war. Und von der Frau, die behauptet hatte, sie in Seattle gesehen zu haben.
»Merkwürdige Geschichte«, sagte Morgan Donovan. »Hört sich an, als hätte Ihnen jemand einen bösen Streich gespielt. Vielleicht irgendein Mädchen, das Ihnen eins auswischen wollte.«
»Nein«, erwiderte ich. »Es war eine Erwachsene.« Ich überlegte. »Verstieße es eigentlich gegen die Regeln, wenn einer Ihrer Mitarbeiter besorgte Eltern darüber informieren würde, dass ihre Kinder hier Zuflucht gesucht haben?«
»Allerdings«, sagte sie. »Ganz ehrlich, nichts wäre
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