In Todesangst
Papierkorb.
Ich hatte keine Zeit, mich mit ihnen auf einen Streit einzulassen, sondern verabschiedete mich einfach und setzte meine Tour fort.
Gegen neun Uhr hatte ich alle Flugblätter verteilt. Es begann zu regnen. Schräg gegenüber dem Second Chance befand sich ein Diner, in dem ich einen Fensterplatz ergatterte. Ich legte mein Handy neben mich auf den Tisch, bestellte mir ein Putensandwich und einen Kaffee und behielt den Eingang des Second Chance im Auge. Unweit davon entfernt stand eine Laterne, so dass ich sicher war, Syd auch durch den Regenschleier zu erkennen, falls sie auftauchen sollte.
Mechanisch aß ich mein Sandwich, nahm einen Bissen, kaute, schluckte. Trank meinen Kaffee.
Abermals versuchte ich Yolanda Mills zu erreichen. Vergebens.
Ich hatte das Handy gerade beiseitegelegt, als es plötzlich klingelte. Ich griff so schnell danach, dass ich meine Gabel vom Tisch fegte.
»Ja?«
»Ich bin’s«, sagte Susanne.
»Hi«, sagte ich. »Du bist noch wach? Wie spät ist es bei euch? Es muss doch schon nach Mitternacht sein.«
»Ich habe den ganzen Abend darauf gewartet, dass du endlich anrufst.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich habe nichts herausgefunden. Die Spur hat sich im Sand verlaufen.«
»Du hörst dich elend an«, sagte sie.
»Ich muss mir erst mal ein Hotelzimmer suchen«, erwiderte ich. »Weiter oben an der Straße habe ich ein Holiday Inn gesehen, glaube ich. Ich muss morgen früh raus, mich um die anderen Auffangstellen für Kids kümmern – und vielleicht gelingt es mir ja doch noch, diese Yolanda Mills zu finden.«
»Wie? Du hast sie noch gar nicht getroffen?«
»Nein. Keiner kennt sie.«
»Jetzt kapiere ich gar nichts mehr.«
»Dann geht’s dir genau wie mir«, sagte ich.
Tausende von Meilen lagen zwischen uns, aber ich spürte Susannes Enttäuschung, als säße sie mir gegenüber. »Ich hätte mir nicht so große Hoffnungen machen sollen«, sagte sie leise.
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
Ich warf einen Blick zum Second Chance hinüber.
Ein Mädchen stand vor dem Eingang. Ein blondes Mädchen.
»Ich hab mich dran geklammert wie ans liebe Leben«, sagte sie. »Ruf mich bitte sofort an, wenn du etwas hörst, okay?«
»Klar«, sagte ich. »Noch was anderes, Suze. Wie haben sich Evan und Syd eigentlich verstanden? Wie eng war ihr Verhältnis, bevor sie verschwunden ist?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Nicht besonders eng. Sie kamen einigermaßen miteinander klar, aber zusammen weggegangen oder so sind sie nie, soweit ich weiß.«
»Was treibt er eigentlich die ganze Zeit?«
»Was meinst du?«
»Er hat dir doch offenbar Geld gestohlen, oder? Außerdem hast du mir erzählt, dass er sich die ganze Zeit in seinem Zimmer verbarrikadiert. Wenn er also keine Pornos guckt, was macht er dann?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist es ja völlig harmlos. Er steht total auf Musik, hat Dutzende von Programmen, mit denen man seine eigenen Sounds zusammenfrickeln kann. Vielleicht bastelt er ja an irgendwelchen Hits für die Zukunft – aber eben über Kopfhörer, so dass niemand etwas mitbekommt.«
Sie klang nicht sehr überzeugt.
Ich behielt das Mädchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Auge.
»Wäre es möglich, dass Evan Syd in irgendeine üble Sache hineingezogen hat? Du hast selber zugegeben, dass du nicht weißt, was er den ganzen Tag treibt.«
»Das sind doch völlig haltlose Verdächtigungen, Tim. Ich …«
»Susanne? Hallo?«
»Entschuldige, ich habe nur die Tür zugemacht. Nicht, dass ich Bob noch aufwecke. Nein, ich glaube nicht, dass Syd von Evan in irgendetwas hineingezogen worden ist, was auch immer du damit meinen magst. Aber eines muss ich dir trotzdem noch erzählen.«
Das blonde Mädchen ging im Halbschatten auf und ab. Wann immer sie sich auf Höhe des Eingangs befand, konnte ich sie kaum erkennen, näherte sie sich hingegen der Straße, schimmerte ihr Haar im Laternenlicht.
Verdammt noch mal. Zeig endlich dein Gesicht.
»Heute Abend war der Van wieder da«, sagte Susanne.
»Welcher Van?«, fragte ich. Der Laternenschein fiel für eine Sekunde auf das Gesicht des Mädchens, als sie an den Straßenrand trat und nach links und rechts Ausschau hielt.
»Der Van, von dem ich dir erzählt habe. Der mir mehrmals bei uns in der Straße aufgefallen ist.«
Klar erinnerte ich mich; ich war nur nicht ganz bei der Sache, während ich das Mädchen im Auge behielt.
»Und?«
»Es ist gerade mal zwei Stunden her. Als ich gegen zehn aus dem Fenster
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