In Todesangst
Zeit mehr verlieren.«
Sie schwieg und betrachtete ihre Füße.
»Am besten, du rufst erst mal deine Mom an und gibst Bescheid, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht«, sagte ich.
Ein angedeutetes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Glauben Sie wirklich, jede Familie wäre so wie Ihre?«
»Was meinst du?«
»Als ob sich alle Eltern um ihre Kinder kümmern würden.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
»Ich weiß, wie es für Sydney ist«, sagte Patty. »Sie tut immer so, als hätte sie pausenlos Zoff zu Hause, regt sich auf, dass Sie ihr immer hinterhertelefonieren, dauernd wissen wollen, wo sie gerade ist. Wenn wir zusammen abhängen, beschwert sie sich ständig darüber, wie sehr ihr das alles auf den Zeiger geht, aber eigentlich glaube ich, dass sie das bloß macht, damit ich mich erst so richtig beschissen fühle, weil sich bei mir zu Hause nämlich niemand darum schert, wo ich gerade bin, und auch niemand auf die Idee kommen würde, mich von irgendwelchen beschissenen Partys wegzuholen, wo man mir sowieso nur an die Wäsche will. Und wissen Sie auch, warum? Weil es meinen Eltern egal ist – so scheißegal wie nur irgendwas, verstehen Sie?«
»Das tut mir leid, Patty.«
»Mein Vater hätte mich um ein Haar umgebracht … na ja, damals, bevor er sich verpisst hat.« Sie hielt einen Moment inne. »Ich war drei oder so, und weil meine Mutter an dem Tag keine Zeit hatte, sollte er mich auf dem Weg zur Arbeit im Kindergarten vorbeibringen, und wissen Sie was? Ich bin eingeschlafen, und er hat vergessen, dass ich mit im Auto war. Er ist einfach zu seiner Firma gefahren, hat nicht mal gemerkt, dass ich auf dem Rücksitz saß. Tja, und an dem Tag war es richtig heiß draußen.«
»O nein«, platzte ich heraus.
»Doch«, sagte sie. »Schon morgens fast dreißig Grad, aber in dem Auto bestimmt achtzig, so fühlte es sich jedenfalls an, als ich aufgewacht bin. Und mein verdammter Vater hat sich erst zwei Stunden später daran erinnert, dass er mich im Wagen vergessen hatte. Er kommt also plötzlich angerannt, und ich bin schon fast hinüber, und er kriegt die Panik und holt erst mal Wasser, und als er wiederkommt, sagt er als Allererstes: ›Das darfst du aber nicht der Mama erzählend Das weiß ich noch ganz genau, obwohl ich damals noch so klein war.«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Sie hat’s aber trotzdem spitzgekriegt, weil mich ein paar Minuten vorher nämlich eine Frau in dem Auto gesehen und die Polizei gerufen hatte. Und so hat sie’s eben doch erfahren – und das war der Anfang vom Ende ihrer ach-so-tollen Ehe.«
»Das ist ja grauenhaft«, sagte ich.
»Warum hat er das nur getan?«, fragte sie.
Ich seufzte. »So was kann passieren«, sagte ich. »Manchmal ist man wie in Trance, wenn man das gleiche Programm abspult wie jeden anderen Morgen auch. Er war quasi auf Autopilot. Bestimmt hat er es nicht absichtlich getan.«
»Okay, vielleicht nicht«, sagte Patty. »Klar, ich glaube auch nicht, dass er morgens aufgestanden ist und gedacht hat, Hey, heute bringe ich die Kleine um. Wahrscheinlich war es eher was Unbewusstes. Letztlich war es ihm eben scheißegal, was mit mir passiert – er ist ja nicht mal mein richtiger Vater.«
Ich war nicht imstande, ihre Seelenqualen zu zerstreuen. Selbst wenn ich die Energie aufgebracht hätte, auf sie einzugehen, hätte ich ihr nicht helfen können. Und ich war schlicht so hundemüde, dass ich beinahe im Sitzen eingeschlafen wäre.
»Haben Sie Ihre Frau jemals betrogen?«, fragte sie aus heiterem Himmel.
»Das ist Privatsache«, erwiderte ich.
Sie musterte mich scharf. »Aha! Und ich dachte, Sie wären anders. Ich dachte, Sie wären ein Mann mit Prinzipien und so.«
»Die Antwort lautet nein«, sagte ich. »Ich war Susanne immer treu, solange wir verheiratet waren.«
»Hören Sie auf, mich zu verarschen.«
»Wenn du meinst.« Ich kämpfte mich vom Boden hoch.
»Patty«, sagte ich. »Ich brauche dringend eine Mütze Schlaf. Und du solltest auch ins Bett gehen. Du kannst in Syds Zimmer schlafen. Aber morgen früh rufst du bitte deine Mutter an.«
»Haben Sie mein Handy klingeln hören?«, fragte sie. »Gibt’s irgendein Anzeichen dafür, dass sich jemand fragt, wo ich abgeblieben sein könnte?«
»Nein«, räumte ich ein.
Als ich das Badezimmer verlassen wollte, sagte sie: »Ich würde Sie gern was fragen.«
Ich blieb stehen. »Was denn, Patty?«
»Na ja, nur so eine Idee. Könnte ich nicht vorübergehend bei Ihnen wohnen?
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