In tödlicher Gefahr
Sie konnte auch den Mann nicht einordnen. „Du hast doch keine Angst vor mir, Abbie, oder?“
Er kannte ihren Namen. War dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Sie gab sich mutiger, als sie war, unterzog ihn einer genaueren Betrachtung und versuchte sich zu erinnern, wo und wann sie ihm schon einmal über den Weg gelaufen war. Im Restaurant vielleicht? Oder damals, als sie noch den Partyservice gehabt hatte? Aus der Nähe erkannte sie, dass seine Augen entweder dunkelbraun oder schwarz waren. Die Haare hatten dieselbe Farbe, waren für ihren Geschmack allerdings ein wenig zu lang. Er hatte sie zurückgekämmt, was das kantige Gesicht und die niedrige Stirn betonte. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig.
Abbie war sicher, ihm nie begegnet zu sein, doch er schien sie zu kennen. Vielleicht hatte er das Interview vor einigen Wochen in CBS gesehen. Daher kannte er sie wahrscheinlich. Wildfremde Menschen gratulierten ihr seither auf der Straße oder beim Einkauf im Bauernmarkt zu ihrem Preis.
Neugierig und bemüht, einen potenziellen, wenn auch eigenartigen Gast nicht zu verprellen, erwiderte sie: „Ich glaube, Sie sind da etwas im Vorteil, Mr….?“
Amüsiert steckte der Mann die Zigarette in den Mund. „Schönes Lokal hast du da.“ Er deutete mit dem Kopf auf ihr Restaurant. „Was nimmst du so pro Abend ein?“ fragte er mit der Zigarette zwischen den Zähnen. „Fünf Riesen? Zehn?“ Das Feuerzeug flammte auf, und während er die orangerote Flamme an die Zigarettenspitze hielt, sah sie seinen Blick zu ihrer Tasche wandern. Er kicherte wieder, als wüsste er genau, was darin war und woran sie dachte.
Der Instinkt sagte ihr, dass er kein gewöhnlicher Räuber war. Er war zu gesprächig und zu sehr darauf aus, sie mit seinen Bemerkungen nervös zu machen. Sie fasste wieder Mut. „Wie viel ich einnehme, geht Sie nichts an.“ Während sie sprach, nahm sie ihr Handy aus der Tasche. „Tun Sie sich selbst einen Gefallen, und gehen Sie mir aus dem Weg. Oder ist es Ihnen lieber, ich hole die Polizei?“
Ungerührt machte der Mann einen tiefen Zug an seiner Zigarette und blies ihr den Rauch entgegen. An den Geländewagen gelehnt, erwiderte er: „Aber nicht doch, Abbie, ist das eine Art, seinen großen Bruder zu begrüßen?“
3. KAPITEL
A bbies erster Impuls war, die 911 zu wählen. Den Finger bereits über der Tastatur, hielt sie jedoch inne. Etwas an diesem Mann, vielleicht seine unbekümmerte Art, machte sie stutzig. Sollte er die Wahrheit sagen?
Sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder, doch Zweifel waren gesät und ließen sie nicht mehr los. Als sie Ian McGregor das letzte Mal gesehen hatte, war er fünfzehn gewesen. Demnach wäre er heute dreiundvierzig. Er hatte dunkles, welliges Haar gehabt und dunkle Augen, die boshaft funkelten – so wie die des Mannes jetzt –, wenn er jemandem einen Streich spielte.
„Es stimmt.“ Er machte wieder einen Zug an seiner Zigarette. „Ich bin es. Ian McGregor. Wie er leibt und lebt. Ich wette, du hast nicht geglaubt, mich jemals wiederzusehen?“
Was sollte sie darauf erwidern? Als sie nach dem verheerenden Feuer im Haus der McGregors mit ihrer Mutter Kalifornien verlassen hatte, waren Ian und seine Schwester Liz bei ihrer Tante Lucinda in Palo Alto geblieben. Damals war sie selbst acht gewesen und hatte die beiden Teenager schnell aus der Erinnerung verdrängt, zumal sie zwei Jahre unter den Nörgeleien ihres Stiefbruders und der hochmütigen Gleichgültigkeit seiner Schwester Liz gelitten hatte.
„Was ist los, Prinzessin?“ fragte er und benutzte den alten Spitznamen, den er ihr damals gegeben hatte. „Hat die Katze dir die Zunge stibitzt? Oder bist du vor Wiedersehensfreude sprachlos?“
„Woher soll ich wissen, dass Sie der sind, für den Sie sich ausgeben?“
Schweigend zog er eine Brieftasche heraus, öffnete sie und hielt sie ihr schräg zum Licht hin, damit sie lesen konnte. Der abgelaufene Führerschein, ausgestellt auf Ian McGregor, verwies auf eine Adresse in Toledo, Ohio. Das Foto ähnelte ihm genug, um letzte Zweifel auszuräumen. Jetzt wusste sie auch, warum ihr seine Geste vorhin so vertraut gewesen war. Sein Vater hatte die Zigarette immer auf fast dieselbe Weise gegen das Feuerzeug geklopft. Schwungvoll klappte er die Brieftasche wieder zu. „Ich hätte dich früher besucht, aber deine Mutter hat keine Nachsendeadresse hinterlassen.“
„Du hast genau gewusst, wo du sie erreichen kannst, wenn du es wirklich gewollt hättest!“
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