In tödlicher Gefahr
meinte sie bissig. „Sie hat sehr wohl eine Adresse hinterlassen, bei eurer Tante Lucinda.“
Ian schob die Brieftasche wieder in seine Jeans. „Und wie geht es meiner lieben Stiefmommy?“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Ich habe dein Interview gesehen. Meine Mithäftlinge und ich schalteten durch die Kanäle …“
„Mithäftlinge?“ wiederholte sie, als ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. „Du warst im Gefängnis?“
„Tu nicht so erstaunt. Ist das nicht genau der Werdegang, den Irene mir prophezeit hat?“ Er wackelte spöttisch mit dem Zeigefinger hin und her und imitierte die Strafpredigt seiner Stiefmutter. „‚Ich schwöre dir, Ian McGregor, wenn du dich nicht bald änderst, landest du im Jugendgefängnis.‘ Was soll ich sagen, sie hatte Recht. Irgendwie geriet ich in schlechte Gesellschaft, und ehe ich wusste, wie mir geschah, war ich im Knast. Aber ich sollte mich nicht beklagen, oder?“ Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus. „Schließlich hat sich was Gutes aus meinem letzten Knastaufenthalt ergeben. Ich habe dich gefunden.“
„Und warum wolltest du mich finden?“
„Warum nicht? Schließlich sind wir eine Familie.“
„Seit wann? Wenn ich mich recht entsinne, hast du mich immer wie einen Eindringling behandelt.“
Er grinste. „Ich merke immer noch, wann du richtig sauer wirst. Dann verengen sich deine Augen wie damals als Kind. Allerdings hätte ich dich ohne den Namen DiAngelo nicht wieder erkannt. Du hast dich verändert, kleine Schwester.“ Er ließ den Blick an ihr hinabgleiten. „Zum Vorteil, muss ich gestehen.“
„Was willst du, Ian?“ Ihre Stimme klang ungeduldig, doch es war ihr egal, denn sie war müde und wollte nach Hause.
Er schien sie nicht gehört zu haben. „Dann bist du also eine berühmte Köchin geworden. Das wundert mich nicht. Du und Irene, ihr wart immer in der Küche und habt diese tollen Sachen gebrutzelt. Das war das genaue Gegenteil von der Pampe, die wir von meiner Mutter kriegten, als sie noch lebte.“
„Warum hast du Irene dann nicht ein bisschen Dankbarkeit zeigen können, anstatt nur grob und kritisch zu sein.“
„Um Himmels willen, Abbie, mach mal halblang, ja? Ich war dreizehn, als ihr zwei eingezogen seid. Plötzlich war mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich musste mich nicht nur auf eine Stiefmutter einstellen, sondern auch noch auf eine Göre von Stiefschwester. Das war verdammt hart.“
„Und plötzlich möchtest du aus heiterem Himmel die Familienbande erneuern?“
Er zog wieder an der Zigarette, und diesmal besaß er die Höflichkeit, den Rauch zum Nachthimmel zu blasen. „Man sagt, Menschen werden im Alter sentimental. Vielleicht passiert mir das gerade. Ich werde sentimental.“
Abbie hatte genug. Was für ein Spiel er auch treiben mochte, sie spielte nicht mit. „Gute Nacht.“ Sie wollte an ihm vorbei zu ihrem Geländewagen gehen, doch Ian verstellte ihr den Weg.
„Nicht so schnell, Prinzessin. Du und ich, wir haben noch etwas miteinander zu regeln.“
Auch wenn sie gern gegangen wäre, blieb ihr keine Wahl, als abzuwarten, was er zu sagen hatte.
„Du erinnerst dich an das Feuer, Abbie?“
Seine unerwartete Frage ließ augenblicklich bildhaft eine bestimmte Erinnerung entstehen: das Haus in Flammen, und ihre Mutter, die sie und Ian aus dem Inferno rettete. Entsetzt hatte sie damals zugeschaut, wie ihre Mutter wieder in die Flammen laufen wollte, um ihren Mann und Liz zu holen. Zum Glück waren die Feuerwehrleute rechtzeitig eingetroffen und hatten sie daran gehindert. Liz hatte überlebt, doch für Patrick McGregor war es zu spät gewesen.
Und ob sie sich an diese Nacht erinnerte. Neben dem Tod ihres Vaters, als sie fünf gewesen war, war das Feuer eines der schlimmsten Erlebnisse ihrer Kindheit gewesen.
„Ich erinnere mich“, bestätigte sie ruhig.
„Weißt du noch, wie es passiert ist?“
„Warum fragst du das?“
„Tu mir den Gefallen, Abbie. Erinnerst du dich, wie das Feuer entstanden ist?“
„Ich erinnere mich an die Einschätzung des Leiters der Feuerwehr. Dein Vater lag rauchend im Bett und hatte wie gewöhnlich getrunken. Er ist mit der Zigarette in der Hand eingeschlafen.“ Es war ihr gleich, ob sie ihn durch die vorwurfsvolle Bemerkung beleidigte. Er hatte schließlich damit angefangen.
Aber Ian wirkte nicht beleidigt, eher herablassend. „Es lag in Irenes Interesse, dass der Einsatzleiter das glaubte. Sie wollte, dass alle es glaubten. Aber so war es
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