In tödlicher Gefahr
ich Jordan nicht suspendieren werde. Aber er hat seinen Mitschüler verletzt. Dafür muss ich ihn verwarnen. Noch so ein Vorfall, gleichgültig, wer den Streit beginnt, und ich werde Jordan von der Schule verweisen.“
Obwohl John vor zwei Monaten neununddreißig geworden war, fühlte er sich unter diesem strengen Blick wie ein Zehnjähriger. „Wie geht es dem anderen Jungen?“ fragte er.
„Er hat Schmerzen. Aber ich bin froh, sagen zu können, dass sein Nasenbein nicht gebrochen ist.“ Sie machte eine Pause, ließ John jedoch nicht aus den Augen. „Ich weiß, dass Sie und Ihre Frau nun schon einige Jahre geschieden sind. Allerdings frage ich mich, ob es kürzlich Veränderungen in Jordans Leben gegeben hat. Ich möchte nicht neugierig sein“, fügte sie hinzu, „ich versuche nur, einen Grund für die plötzliche Aggressivität des Jungen zu finden.“
John seufzte. Er konnte sich seiner Verantwortung nicht entziehen. Denn er war ebenso schuldig wie Clarice. „Seine Mutter ist beruflich oft unterwegs“, erklärte er. „Und ich arbeite ebenfalls viel.“
„Wo bleibt Jordan, wenn seine Mutter nicht da ist?“
„Bei mir. Oder bei einer Nachbarin seiner Mutter, die einen Jungen in seinem Alter hat.“
Mrs. Rhinehart nickte. „Hat er sich unzufrieden über diese Zustände geäußert?“
„Nicht mir gegenüber.“
„Grund des Problems könnte ein Mangel an elterlicher Zuwendung sein“, fügte sie hinzu und klang jetzt wie eine Psychologin. Anscheinend hatte sie gemerkt, dass John zusammengezuckt war, denn sie hob sofort eine Hand. „Ich werfe weder Ihnen noch Ihrer Frau vor, schlechte Eltern zu sein. Ich betone nur, dass Kinder in Jordans Alter ihre Eltern sehr viel mehr brauchen als Teenager. Der Junge könnte sich einsam fühlen. Vielleicht sehnt er sich auch nach dem Familienleben zurück, das Sie hatten, als Sie noch ein Ehepaar waren. Die Symptome zeigen sich bei Kindern nicht sofort, aber früher oder später kommen sie zum Vorschein. Im Falle Ihres Sohnes glaube ich, dass sie sich bereits zeigen. Er will Aufmerksamkeit, Mr. Ryan. Und wenn er die nicht auf die normale Art bekommt, versucht er es eben auf eine andere.“
„Indem er sich mit Mitschülern prügelt?“
Mrs. Rhinehart zuckte leicht die Achseln. „Das hat Sie zumindest hergebracht, stimmt’s?“
Der Punkt ging an sie. „Ich rede mit ihm. Und ich verspreche Ihnen, dass so ein Vorfall sich nicht wiederholen wird.“
„Gut. Inzwischen könnten Sie und Ihre Frau vielleicht Ihre jeweiligen Terminpläne überdenken. Vielleicht können Sie ein, zwei zusätzliche Stunden pro Tag für Ihren Sohn einschieben.“
Das war fast schon eine Rüge. Sie hatte ihren Standpunkt sehr deutlich gemacht. Es war demnach dringend notwendig, dass sich etwas änderte.
Als genau um zehn die Glocke läutete, kam Jordan als Erster aus seinem Klassenraum. Groß für sein Alter und immer noch sehr schlank, hatte er sich in den letzten beiden Jahren gut entwickelt und verfügte über die Selbstsicherheit, die er so dringend brauchte. Das dichte schwarze Haar war ein wenig wirr, vielleicht von der Rangelei, doch wie durch ein Wunder hatte die marineblaue Uniform weder einen Fleck noch Risse abbekommen. Entweder war die Prügelei frühzeitig beendet worden, oder so eine Prügelei war nicht mehr das, was sie in Johns Jugend gewesen war.
Leicht befangen hob Jordan vorsichtig winkend eine Hand, lief aber nicht wie sonst auf seinen Vater zu, sondern ging langsam, wobei er Johns Miene mit einem zweifelnden Ausdruck in den großen blauen Augen prüfte.
„Hallo, Dad.“ Er blieb vor John stehen, zog an den Riemen seines Ranzens und sah auf. Gleichgültig, was er angestellt hatte, Jordan hatte nie Angst, seinem Vater in die Augen zu sehen. „Hast du mit Mrs. Rhinehart gesprochen?“
„Ich komme gerade von ihr.“
„Bin ich suspendiert?“
„Nein, aber der Vorfall darf sich nicht wiederholen, Kleiner, sonst fliegst du. Und das wollen wir doch nicht, oder?“
„Nein.“
Sie schwiegen, bis sie in Johns Auto saßen, einem schwarzen Plymouth, den er dienstlich und privat nutzte. Sobald Jordan sich angeschnallt hatte, wandte John sich ihm zu. „Also, möchtest du mir erzählen, was passiert ist?“
„Nun ja …“ Jordan drehte sich seinem Vater zu. „Da ist dieser Junge in meiner Klasse, der bildet sich ein, alles über Baseball zu wissen.“
John beherrschte sich, nicht zu lächeln. „Ich dachte, der Titel gehörte dir.“
„Ich weiß viel mehr
Weitere Kostenlose Bücher