In tödlicher Gefahr
selbst und somit noch weniger Zeit für Jordan. Als neue Vizepräsidentin eines Pharmaunternehmens hatte sie eine Vielzahl von Konferenzen, Seminaren und Verkaufsschulungen zu bewältigen, die sie oft tagelang aus der Stadt führten.
Ihre Abwesenheit war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen. Er fand, sie solle mehr Zeit mit Jordan verbringen, und sie hatte ihm vorgeworfen, nicht zu verstehen, wie wichtig ihr die Karriere sei. „Mindestens so sehr wie dir die deine“, hatte sie in völliger Verkennung des Problems erwidert.
Vor der Glastür prüfte er kurz sein Äußeres, da er Mrs. Rhineharts musternden Blick erwartete. Er fuhr sich mit einer Hand durch das schwarze Haar, froh, dass er beim Friseur gewesen war. In letzter Zeit war er so beschäftigt gewesen, dass er die Haare wachsen ließ, bis ihm sein Chef einen tadelnden Blick zuwarf. Er sah an sich hinab. Der blaue Blazer und die graue Hose kamen gerade aus der Reinigung, und das weiße, am Kragen offene Hemd war so frisch, dass es sicher den Maßstäben der strengsten Direktorin genügte.
Beruhigt, dass er seinen neunjährigen Sohn nicht blamierte, drückte er die Tür auf und trat ein. Die Schule würde heute wegen einer Lehrerkonferenz schon um zehn aus sein. John ging durch eine leere, glasüberdachte Eingangshalle, erinnerte sich, wo das Büro der Direktorin lag, und wandte sich nach rechts dem Verwaltungstrakt zu. Erneut fragte er sich, was eine vergleichsweise sanfte Seele wie Jordan veranlasst haben mochte, einen Mitschüler zu schlagen? Nun ja, bald würde er es wissen.
Mrs. Rhinehart saß an ihrem Schreibtisch und sortierte einen Stapel Korrespondenz, als John an die nur angelehnte Tür klopfte. Sie war eine leidlich attraktive Frau, deren säuerliche Miene und steife Haltung ihn kaum zu salopper Freundlichkeit ermutigten.
Sie winkte ihn herein. „Kommen Sie, Mr. Ryan. Bitte setzen Sie sich.“ Die Direktorin hatte ihm gleich beim ersten Treffen erklärt, dass sie ihn nicht mit Detective anreden werde, da es die Philosophie von FitzRandolph sei, alle Eltern gleich zu behandeln, weshalb man Titel und dergleichen nicht erwähne. Ihm war das nur recht.
„Danke.“ Fast hätte er gefragt: Was hat er jetzt wieder angestellt?, beherrschte sich jedoch, damit sie das Gespräch eröffnen konnte. Allmählich hatte er begriffen, wie das an Privatschulen so lief.
Mrs. Rhinehart schob die Papiere beiseite, legte die Unterarme auf den Schreibtisch und betrachtete ihren Besucher durch die Brille, und zwar genau über die Linie hinweg, welche die eingeschliffene Lesebrille abgrenzte. „Boxen Sie, Mr. Ryan?“
Da dies offenbar eine ernsthafte Frage war, bemühte John sich um eine dementsprechende Erwiderung. „In meiner Jugend einmal, ja.“ Ihre leichte Missbilligung bemerkend, fügte er hinzu: „Aber ich habe seit mindestens zwanzig Jahren keine Boxhandschuhe mehr angezogen.“
Sein Versuch, einen Anflug von Humor zu zeigen, machte die Sache offenbar noch schlimmer. „Ich habe mich gefragt, woher Jordan seine Technik hat.“ Ihre nächste, mit äußerster Missbilligung vorgetragene Bemerkung überraschte ihn. „Um einen Freund Ihres Sohnes zu zitieren, der Augenzeuge des Vorfalls war: ‚Jordan hat einen rechten Killerhaken.‘“
Unwillkürlich empfand John väterlichen Stolz. Während seiner ersten sechs Lebensjahre war Jordan ungewöhnlich zart gewesen und wurde deshalb innerhalb und außerhalb der Schule grausam gehänselt. Als er es dann eines Tages nicht mehr aushielt, hatte er einem der Jungen, der ihn eine Salzstange schimpfte, eine gelangt. Doch der hatte gnadenlos zurückgeschlagen. Als Jordan weinend und blutig heimkehrte, hatte John ihm im Garten einige Tricks und Bewegungsabläufe gezeigt. Kurz darauf hatte derselbe Junge in Erwartung eines leichten Sieges wieder einen Streit vom Zaun gebrochen, doch diesmal war er es gewesen, der heulend nach Hause lief.
Zu dem Zeitpunkt hatte Clarice entschieden, ihr Sohn entwickele sich zu einem Tyrannen, und es sei an der Zeit, ihn in eine Privatschule zu stecken.
Mrs. Rhineharts Miene verriet John, dass die Angelegenheit nicht zum Lachen war. „Darf ich fragen, was den Vorfall ausgelöst hat?“
„Irgendein alberner Streit über Baseballhelden.“ Ihr Ton besagte eindeutig, dass sie nicht viel von Baseball hielt. „Ich habe das nicht vertieft, Mr. Ryan. Der Anlass für die Prügelei ist unwichtig. Ich muss jedoch hinzufügen, dass der andere Junge den ersten Schlag gemacht hat, weshalb
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