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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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ins Tal kam, der
wollte sich der Illusion unberührter Landschaft hingeben. Idealerweise ohne
Strom und fließend Wasser – außer natürlich in den Ausflugslokalen.
    Julius nahm einen landwirtschaftlichen Weg in den Wald, der östlich
der A61 hinter dem Heppinger Berg lag. Dann parkte er
einfach an der Seite. Aus dem Kofferraum holte er ein Paar Gummistiefel. Ein
kleines Messer und ein Korb lagen daneben. Das reichte als Ausrüstung. Zur
Entspannung gab es nichts Besseres als Pilzesammeln. Auf dem Hinweg hatte
Julius sich überlegt, dass er heute Herbsttrompeten suchen würde. Er wollte
damit den Fasan mit Riesling-Sauerkraut und Maronen ein wenig aufpeppen. Nur
für den Abend, zum Ausprobieren.
    Julius stapfte über den weichen Waldboden. Jetzt hieß es Ausschau
halten nach Buchen und Eichen. In deren Schatten lebte der würzige Pilz gerne,
am liebsten mit der ganzen Großfamilie. Dicht wie ein Baldachin schloss sich
das Blätterwerk über Julius, als er tiefer in den Wald glitt. Er wanderte im
Zwielicht der durchscheinenden Sonnenstrahlen wie in einer verwunschenen,
besseren Welt. Den Horror der zurückliegenden Morde und der bevorstehenden
Aufnahmezeremonie hinter sich lassend wie unnützes Gepäck. Julius musste an die
Zen-Weisheit denken, welches Geräusch ein fallender Baum macht, wenn niemand
zuhört. Draußen mochte vorgehen, was wollte, er war nun hier.
    Ein Satansröhrling prangte nahe einer Fichte. Ein prachtvolles
Exemplar. Bestimmt zwanzig Zentimeter Durchmesser, schätzte Julius. Er ließ den
seltenen, giftigen Pilz stehen. Auch die unzähligen Flaschenboviste, die
überall verstreut blendend weiß aufschienen. Julius kam sich vor wie bei einem
anderen Volk zu Gast. Kein Wunder, dass der Volksglaube Zwerge erfunden hatte.
Irgendwie sah es aus, als würden sich kleine Männchen mit großen, bunten Hüten
überall im Wald verstecken. Ganz still. Und es war tatsächlich still, denn der
Wald verschluckte den Lärm der Autobahn, als wäre es nur das Brummen einer
dicken Hummel. Julius begann zu pfeifen. Diese Augenblicke des Friedens hatte
er wirklich nötig. Sein Glück komplett machend, tauchte in Sichtweite eine
Kolonie Herbsttrompeten auf. Der dunkelbraune Pilz war gut zu erkennen,
verdankte er den Namen doch seiner unverwechselbaren Form. Wie ein Spot beim
Rockkonzert brach genau zu den Herbsttrompeten ein Lichtstrahl durch. Zwischen
Moosen und verfärbten Blättern lugten sie nahe einer Buche hervor. Voller
Vorfreude stiefelte Julius darauf zu, das Messer bereit haltend.
Merkwürdigerweise ging von den Pilzen ein unangenehmer, modriger Geruch aus.
Julius hockte sich hin, um zu sehen, ob etwas mit ihnen nicht stimmte, ob
vielleicht ein Waldbewohner zu enthusiastisch gedüngt hatte. Aber die Pilze
waren makellos. Julius schnitt sie ab und halbierte einige, um zu sehen, ob
Maden sie befallen hatten. Die kleinen Köstlichkeiten waren kerngesund. Der
stechende Geruch wurde stärker. Julius vermutete ein verfaulendes Tier, einen
Fuchs vielleicht. Dann würde er den Jagdpächter, in diesem Fall Antoine Carême,
den Chef des »Frais Löhndorf«, informieren müssen, damit sich Fuchsbandwurm
oder Tollwut nicht ausbreiten konnten. Julius sah sich um. Nichts. Nur
braungrüner Waldboden und Bäume, die stumm dastanden wie die Terrakotta-Armee
des Ersten Kaisers.
    Er ging um die große Buche vor ihm herum, vorsichtig bedacht, nicht
auf die Ursache des widerlichen Geruchs zu treten. Er fand: Wurzeln, Moose,
Pilze, Farne, Blätter. Sonst nichts. Der Gestank war hier so stark, dass Julius
den Pullover über die Nase zog. Er trat auf einen kleinen Erdhügel, um einen
besseren Überblick zu haben.
    Der mit welken Blättern bedeckte Hügel war weich.
    Viel zu weich.
    Julius sprang herunter, fiel dabei unglücklich mit dem Gesicht voran
in den feuchten Waldboden. Mühsam stand er wieder auf und griff sich einen
herumliegenden Ast, um die Blätterdecke vom Hügel zu wischen. Der Gestank war
nun so durchdringend, dass Julius unwillkürlich zurückwich. Doch dann fasste er
sich ein Herz und stocherte mit dem Ast in der Erhebung.
    Er stieß auf etwas Hartes.
    Julius nahm eines seiner Menthol-Taschentücher, hielt es vor die
Nase, beugte sich vor und schob die Blätterdecke großflächig weg.
    Ein Schuh kam zum Vorschein. Merkwürdig zur Seite geknickt. Der
helle, mit Neonstreifen verzierte Adidas-Treter schimmelte bereits.
    Plötzlich schien der Wald zu verstummen. Julius hörte nichts mehr
außer seinem keuchenden Atmen.

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