In Vino Veritas
Die beiden führen eine vorbildliche Ehe. Da weiß die eine
Hand immer, was die andere tut.«
»Hast du was gehört von einem Termin in Koblenz, in der Nacht von
Siggis Mord?«
»Koblenz? Warte …« François legte theatralisch einen
Zeigefinger an die gesenkte Stirn. »Koblenz … das muss das Treffen bei der IHK -Sommelierschule gewesen sein. Das passt auch vom
Zeitpunkt. Ja, da haben wir drüber geredet. Er hat mich gefragt, was ich von
der Ausbildung dort halte, und meinte dann, er habe da ein Treffen gehabt, aber
die besoffenen Köppe hätte er irgendwann nicht mehr ausgehalten und wär recht
früh wieder zurückgefahren. Genau.«
Dann hatte Herold die Polizei in Sachen Alibi angelogen. Er war doch
nicht lange auf dem Termin gewesen. Er musste darauf spekuliert haben, dass
sich die angetrunkenen Schuloberhäupter nicht an die genaue Uhrzeit seiner
Abfahrt erinnern würden. Riskant. Aber Herold war ein Pokerspieler. Er liebte
das Risiko. Wie so viele Spitzenwinzer. Jeden Herbst galt es zu entscheiden,
wann die Trauben zu lesen waren. Mit jedem Sonnen-Tag erhöhte sich der
Öchslegrad – und damit die Qualität und der Preis, den man für den Wein
bekam. Regnete es jedoch, sogen sich die Trauben voll mit Wasser, und wenn es
ungünstig lief, fingen sie an zu faulen. Julius wusste aus den letzten Jahren,
dass Herold in dieser Zeit immer wie elektrisiert war. Er pokerte gerne hoch,
obwohl er schon so manche Teilernte verloren hatte.
Es würde zu ihm passen.
»Und am Tag, als Markus …?«
»Da war er im Weinberg. Ich hab mit den Polen drüber geredet. Das
Alibi ist bombenfest.«
Julius kam eine Idee.
»Wo war Christine?«
»Wo soll sie gewesen sein? Im Büro vermutlich, wie immer.«
»Und da ist sie …«
François konnte Julius Gedankengang folgen. »… allein. Da macht
sie alles allein .«
Julius stellte die Musik wieder lauter. Das Allegro des sechsten
Brandenburgischen Konzertes ertönte mit brasilianischem Schwung und ließ die
verschnupfte Jahreszeit vergessen. Der dicke Leipziger Thomaskantor bewegte
sich zum Choro wie ein junger Gott.
»Eins hab ich noch vergessen!«, fiel François ein. »Oder hat Herold
dir eben von der Weinbruderschaft erzählt?«
»Nein. Was ist denn mit der Weinbruderschaft?«
»Nächste Woche Montag ist es so weit. Du wüsstest schon, was.«
Die Aufnahmezeremonie. Das hatte er völlig vergessen. In seinem
mentalen Terminkalender machte Julius eine kurze Notiz. Montag: ins
Haifischbecken springen.
Julius wollte sich nach dem Stress entspannen. Aber dafür
fehlte die Zeit. Julius wollte ein neues Rezept ersinnen. Aber dafür fehlte die
Muße. Doch er musste. Der Kritiker des Michelin konnte schon heute Abend
auftauchen. Und das Menü war noch nicht komplett. Zurzeit stand auf der Karte
eine wenig einfallsreiche Cremesuppe von der Brunnenkresse. Die schmeckte zwar
vorzüglich, war aber in der Spitzengastronomie häufiger anzutreffen. Das würde
nicht reichen. Nicht in diesem Jahr.
Suppen hatte er stets aus Kochbüchern geholt. Natürlich variiert.
Verfeinert. Doch waren es niemals seine Kreationen.
Noch nie hatte er eine Suppe erfunden. Sie fehlte, wie Ivan Lendl Wimbledon.
Darum wollte er sie umso mehr. Doch er hatte die passende Musik noch immer
nicht. Julius stand auf und stellte die Bruckner- CD ab. Auch Bruckner konnte keine Suppe kochen. Enttäuscht ließ Julius sich in den
über die Jahre weich gewordenen Ledersessel fallen. Sein Kopf war leer wie ein
Frühstücks-Büfett nach dem Ansturm der Pauschaltouristen.
Julius presste die Augenlider zu und versuchte, sich irgendetwas
Essbares vorzustellen. Einen Startpunkt für die Suppe. Aber er sah nichts.
Nichts schien ihm geeignet. Kein Fleisch, kein Gemüse, kein Gewürz. Alles war
falsch. Er stand auf und lief im Wohnzimmer umher, stützte sich gegen die
Regalwand, schaute aus dem Fenster auf den Garten. Die nun kahlen Rebstöcke,
die er zum Spaß gepflanzt hatte, die Blautanne, welche die Eltern zu seiner
Geburt eingesetzt hatten, den selbst gemauerten Grill am Ende des Grundstücks
vor dem hölzernen Geräteschuppen. Er dachte darüber nach, dass er schon längst
einen neuen kaufen wollte, im Blockhausstil, wo man auch …
Julius wandte sich wütend ab. Warum konnte er sich nicht konzentrieren?!
Die Zeit drängte, und er dachte an Gartenhäuschen! Da schaffte er es schon mal, nicht an den Mörder zu denken, und dann das! Es würde
heute nicht funktionieren. Und er hatte keine Lust, einen weiteren
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