In Vino Veritas
Und das fiel ihm immer schwerer. Der beißende
Geruch hatte sich wie ein hungriger Hund durch das dünne Papiertuch gefressen.
Julius schluckte, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken, und
stieß die Blätterdecke weiter fort. Ein Bein erschien. Die blaue Jeans dreckig
und feucht. Schmutzige Schleifspuren liefen darüber.
Er stocherte weiter.
Die Gliedmaßen tauchten auf. Unnatürlich verdreht.
Er schloss die Augen, um das Bild wegzudrücken. Es blieb.
Julius warf das Taschentuch weg, trat näher an die Leiche und
drückte hastig die restliche Blätterdecke fort. Legte sie frei. Ekel
durchschauderte ihn. Doch er widerstand dem Drang, sich zu übergeben. Der Wald
hatte längst begonnen, die Leiche in Besitz zu nehmen. Das Gesicht übersät mit
Maden, Nase und Augen eingefallen, die Zähne unter den angefressenen Lippen wie
zu einem Grinsen gebleckt.
Das Verlangen, diesen Ort zu verlassen, wurde übermächtig. Julius
warf den Stock weit weg, als klebe der Tod an ihm, und ging hastig rückwärts
Richtung Auto. Er traute sich nicht, dem Toten den Rücken zuzuwenden. Eine
unerklärliche Angst war in ihm aufgestiegen. Allein zu sein mit dem Toten im
Wald. Erst als die Leiche außer Sichtweite war, drehte er sich um und rannte
zum Wagen zurück. Dort angekommen löste er das Handy aus der Halterung und
wählte die Nummer der Polizei.
Jemand nahm ab.
Julius legte auf.
Er hatte keinen Zweifel, wer der Tote im Wald war. Turnschuhe, eine
Jeans, eine jugendliche Statur: Bernard Noblet, der vermisste Franzose. Julius
hatte auch keinen Zweifel daran, dass ihn dieser Fund in den Augen der
Kommissarin noch verdächtiger machte. Denn damit waren es zwei Leichen, die er
zufällig entdeckt hatte. Also würde er ihn nicht melden. Und doch würden sie
irgendwann seine Fußspuren im nassen Waldboden nahe der Leiche entdecken, die
Reifenspuren des Audis am Wegrand.
Er saß in der Falle.
VII
»Sippe En Surprise«
Julius’ Schlafzimmer lag im daunenweichen Dämmerlicht des
Morgens. Als er die Augen öffnete, wusste er, dass dieser Tag noch schlimmer
werden würde als der letzte. Nicht, weil er mit dem linken Fuß zuerst
aufstand – so etwas hielt er für Unfug. Auch nicht, weil er schlecht
geschlafen und Alpträume über kulinarische Katastrophen gehabt hatte. Der Grund
war: Herr Bimmel hatte noch nicht das Frühstück eingefordert. Er maunzte nicht
vor der Schlafzimmertür. Das lag zweifellos daran, dass er sich gestern den
Magen mit Käse-Rollis voll geschlagen hatte, änderte aber nichts an der
Tatsache: Tage, an denen der Kater morgens schwieg, brachten nichts Gutes.
Julius vollzog stumm Morgenwäsche, Anziehen und Frühstück, ging dann
die wenigen Schritte ins Restaurant und traf auch dort auf Schweigen.
Franz-Xaver stand vor der Tür Spalier, den Kopf gesenkt, als erwarte Julius das
Schafott. Aber auf einem der Tische des Restaurants fanden sich nur drei
harmlose Zeitungen: Rhein-Ahr-Rundschau, General-Anzeiger und Rhein-Zeitung.
Alle von Franz-Xaver in einem Anflug von Melodramatik auf Silbertabletts
gelegt. Julius näherte sich ihnen wie giftigen Schlangen, die eingerollt darauf
warteten, dass jemand die Hand zu weit ausstreckte.
Da stand es Schwarz auf Recycling-Grau, zusammen mit einem Foto, das
nichts außer Wald und Polizeifahrzeugen zeigte.
Vermisster Franzose tot aufgefunden
Von unserem Korrespondenten Ignaz Wrobel
Bad Neuenahr. Der
dritte Mordfall innerhalb von nur zwei Wochen erschütterte gestern das Ahrtal.
Eine solche Serie gab es noch nie in der ländlichen Region. Bernard Noblet,
Praktikant beim Weingut Porzermühle, wurde nahe der A61 bei Heppingen tot in
einem Waldstück entdeckt. Der Tote befand sich bereits im fortgeschrittenen
Stadium der Verwesung. Wie die Autopsie ergab, wurde der 27-jährige Franzose
erschossen. Bernard Noblet war in Frankreich mehrfach vorbestraft wegen
kleinerer Delikte, darunter Einbruch und Autodiebstahl. Die Leiche soll noch
diese Woche in die Heimatstadt Dijon überführt werden. Die Eltern waren bisher
zu keiner Stellungnahme bereit. Der Fall hat auch in Frankreich für großes
Aufsehen gesorgt, da er in Verbindung mit den Morden an dem Winzer Siegfried
Schultze-Nögel und dessen Kellermeister Markus Brück gebracht wird. Die Polizei
wies solche Spekulationen jedoch weit zurück. Kommissarin von Reuschenberg
sagte in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz: »Noch gibt es keine
sicheren Hinweise darauf, dass die drei Morde in
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