In weißer Stille
dass sein Vater langsam und elend in diesem Wochenendhaus dahinsiechte. Warum hatte er ihn nicht erschossen oder erschlagen? Warum dieser langsame, qualvolle Tod? War das Bertrams Rache gewesen, eine Bestrafung für den Vater, der ihn nicht liebte, ihn zurückwies und in der Not alleine ließ? Oder einfach ein Ablenkungsmanöver?
Dühnfort blieb am Fenster stehen und blickte hinunter auf den hell erleuchteten Platz vor der Frauenkirche. Er ließ den Blick über das beinahe menschenleere Areal wandern und über die angestrahlten Türme bis hinauf zu den zwiebelförmigen Hauben. Seine Unruhe legte sich nicht.
Er ging hinunter in die zweite Etage zu Meo, der hinter einem Computer saß.
»Hast du die Ortungsdaten inzwischen?«, fragte Dühnfort.
Meo drehte sich um. »Sind vor einer halben Stunde eingetrudelt. Bin schon dabei.«
»Wie lange dauert die Auswertung?«
»Wann brauchst du’s?«
»Am liebsten, so schnell es geht. Komplett, die ganze Woche vom 6 . bis einschließlich 13 .«
»Gut, dass ich keine Freundin hab.« Meo wandte sich wieder den Monitoren zu. »Bringst du mir ’nen Döner mit?«
* * *
Caroline zog die Wohnungstür hinter sich zu und machte sich auf den Weg zum
Rue des Halles,
einem französischen Lokal in Haidhausen. Christian Brandenbourg hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen, als er sie gestern Abend zurückgerufen hatte. Es war ein kurzes Gespräch gewesen, durchaus freundlich, aber knapp. Dennoch hatte es in Caroline eine Spur von Unsicherheit hinterlassen. Brandenbourg hatte sich erfreut gezeigt, von ihr zu hören. »Ich erinnere mich sehr gut an Elli«, hatte er gesagt, das
sehr gut
aber etwas stärker betont und dadurch diesem Satz etwas Doppeldeutiges gegeben, als wären die Erinnerungen nicht angenehm.
Caroline stieg in das wartende Taxi und gab dem Fahrer die Adresse. Plötzlich erschien ihr das Treffen unsinnig. Würde sie wirklich mehr über ihre Mutter erfahren, neue Seiten an ihr entdecken? Brandenbourg war damals zwölf Jahre alt gewesen. Ein Kind. Doch nun war sie bereits unterwegs, und ein Abend in einem guten Restaurant in Gesellschaft eines bekannten Musikers war auf alle Fälle interessanter, als allein zu Hause zu sitzen und auf Marc zu warten, der erst kurz nach Mitternacht mit dem Zug aus Budapest in München eintreffen würde. Ich könnte ihn abholen, dachte sie plötzlich. Das wäre eine Überraschung. Er würde sich sicher freuen.
Das Taxi hielt, Caroline zahlte und stieg aus. In der Nachtluft schwang noch ein Hauch der Tageswärme, aber um die Ecken zog bereits ein kühler Wind. Eilig betrat sie das Rue des Halles. Eine Geruchsmischung von Lamm und Gratin, von Austern und Wein, von Gateau au chocolat und Käse stieg ihr in die Nase. Das Restaurant war nicht so elegant, wie Caroline erwartet hatte. Aber in seiner geschmackvollen Schlichtheit erinnerte es sie an die kleinen Lokale, die man in Pariser Seitenstraßen finden konnte und die sie sehr schätzte. Ein Kellner kam auf sie zu und führte sie an den reservierten Tisch. »Herr Brandenbourg verspätet sich ein paar Minuten. Sie möchten das entschuldigen und einstweilen einen Aperitif trinken. Vielleicht ein Glas Champagner?«
»Gerne.« Caroline reichte dem Kellner ihren Mantel und setzte sich. Das Restaurant war gut besucht, beinahe alle Tische besetzt. Ihr gefiel die Mischung der Gäste, die aus Geschäftsleuten, Familien und Paaren bestand. Der Kellner stellte das Glas Champagner ab und entfernte sich.
Caroline trank einen Schluck und sah aus dem Fenster auf die beleuchtete Straße und dachte an ihre Mutter.
Gestern hatte Caroline noch weiter im Tagebuch gelesen und sich gefragt, ob es den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe gab? Heute vermutlich. Aber damals? Und selbst wenn, Mutter hätte keine Konsequenzen gezogen. Warum war sie nicht in der Lagegewesen, Wolfi zu verlassen? Wolfi, der die ehelichen Pflichten mit Nachdruck einforderte, um es milde auszudrücken. Damals waren Scheidungen jedoch nicht so selbstverständlich gewesen wie heute, und was hätte Mutter allein machen sollen? Sie war nicht nur finanziell abhängig, sondern auch noch schwanger geworden. Dieser elende Pragmatismus, der ihr zu eigen gewesen war und sie handlungsunfähig gemacht hatte. Sie hatte sich dahinter verschanzt, als ob es keine Alternativen gegeben hätte. Vielleicht konnte sie diese auch nicht erkennen. Nach Peters Tod war sie in ein schwarzes Loch gefallen, das sie beinahe willenlos gemacht hatte. So viel
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