In weißer Stille
zufällig Zeuge, ohne dass sie mich bemerkte. Beim Abendessen war sie dann wieder ganz Dame. Das Haar geglättet, die Bluse gestärkt, der Rock faltenlos, der Teint vornehm bleich. Sie hat sich nichts anmerken lassen.«
»Sie scheinen sehr unterschiedlich gewesen zu sein, unsere Mütter.« Caroline legte den Löffel an den Tellerrand. »In den Briefen, die meine Mutter an Ihren Vater geschrieben hat, ist sie mir völlig fremd. So habe ich sie nie kennengelernt. Warmherzig? Vielleicht. Aber nur an manchen Tagen.«
»Oh, sie war sehr lustig, beinahe albern wie ein junges Mädchen.«
»Sie haben sie öfter getroffen?«
»Ich habe sie sozusagen erwischt. Ihre Mutter und meinen Vater.«
»Bitte?«
»Nicht so, wie Sie jetzt denken, Caroline.« Ein Lächeln lief über sein Gesicht, und dann erzählte er, wie er eines Tages vom Geigenunterricht nach Hause gegangen sei und dabei einen kleinen Umweg durch den Nymphenburger Schlosspark gemacht habe. »Es war Herbst, überall lag buntes Laub, der Himmel spannte sich blau über der Stadt, und als ich an der Badenburg vorbeikam, stand da eng umschlungen ein Paar und küsste sich ganz ungeniert. Ich war zwölf, am Anfang der Pubertät. Natürlich habe ich interessiert hingeguckt, bis ich gemerkt habe, dass das mein Vater ist. Er hat mich entdeckt und ins Vertrauen gezogen. Von da an habe ich die beiden häufiger getroffen, und wir hatten viel Spaß. Ich weiß noch, dass wir an diesem Tag Statuen gespielt haben. Wir haben uns auf die leeren Marmorsockel gestellt und versucht, reglos und ernst in den Park zu blicken. Natürlich klappte das nicht, einer von uns prustete immer los.«
Caroline rührte nachdenklich in der Suppe. »Meine Mutter schreibt nur an einer Stelle in ihrem Tagebuch von Ihnen, und zwar über die Abendeinladung. Das muss wohl gewesen sein, bevor Ihre Mutter von der Beziehung erfuhr.«
Christian erzählte, dass er sich an diesen Abend gut erinnerte. Er durfte vorspielen, und Elli hatte begeistert applaudiert. »Zu diesem Zeitpunkt hatten sie schon beschlossen, für immer zusammenzubleiben. Nur ihre besseren Hälften wussten noch von nichts.«
»Elli ist das nicht leichtgefallen. Sie hat sich große Sorgen gemacht, was aus Ihnen und Ihrer Schwester werden würde.«
»Wieso? Für mich war das klar. Ich wäre natürlich bei meinem Vater und Elli geblieben. Aber dann … Daraus wurde ja nichts. Und daran ist Ihr Vater schuld.« Christian blickte auf. Die grauen Augen hatten sich verdunkelt, wie der Himmel bei einem heraufziehenden Unwetter.
* * *
Dühnfort saß an seinem Schreibtisch und las Protokolle, während er auf das Bewegungsprofil von Bertrams Handy wartete. Er hatte Meo einen Döner besorgt und für sich ein Baguette mit Roquefort und Birne, das längstverspeist war. Es war beinahe halb elf. Lustlos blätterte er eine Seite um, als das Telefon klingelte. »Fertig«, sagte Meo. »Willst du mal gucken?«
»Bin schon unterwegs.«
Als Dühnfort in Meos Labor ankam, hatte der Junge eine Landkarte von München und Umgebung mit einem Beamer an die Wand projiziert. Diese Karte war durch wabenförmige Konturen gegliedert. Im Ballungsraum München waren die Waben kleiner als in den ländlichen Gebieten. Innerhalb dieser Waben hatte Meo farbige Textfähnchen markiert, die Datum und Uhrzeit anzeigten. Er griff nach einem Laserpointer und deutete auf die Karte. »Jeder Tag hat eine andere Farbe. Blau ist Sonntag, der 5 . Oktober, als Bertram und Papi gegrillt haben. Gucken wir uns erst mal den an.« Meo tippte auf die Tastatur, und die farbigen Markierungen verschwanden bis auf die blauen.
»Was bedeuten die Waben?«, fragte Dühnfort.
»Das sind Funkzellen. Da pro Funkzelle nur eine begrenzte Anzahl von Gesprächen gleichzeitig geführt werden kann, sind die Zellen in der Stadt kleiner als auf dem Land.« Meo ließ den Lichtpunkt über die Karte wandern. »Also Sonntag vor dem Überfall fährt Bertram zu Papi zum Würschtlgrillen. Stimmt.« Meo wies auf einen blauen Punkt am Rande Münchens. »10.35 Uhr meldet sich sein Handy in dieser Funkzelle an, eine halbe Stunde später in dieser, dann in dieser.« Meos Laserpointer wanderte über die Karte entlang der blauen Markierungen bis nach Münsing. »Auch der Abstecher nach Wolfratshausen zum Grillkohlekaufen ist richtig.« Meo wies auf die entsprechende Wabe und den Punkt mit der Uhrzeit. »12.17 Uhr. Am späten Nachmittag ist er wieder nach Hause geradelt.« Der Pointer fuhr die gleiche Streckeauf der
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