In weißer Stille
in der Kantine um ein Gespräch, das dann während eines Spaziergangs im Klinikpark stattfand. Anfangs muss es noch einigermaßen zivilisiert abgelaufen sein. Das berichtete jedenfalls eine Schwester, die den beiden begegnete. Doch schon kurz darauf brüllte Ihr Vater herum. Es gab ein wüstes Wortgefecht, an dessen Ende mein Vater zusammenbrach. Herzrhythmusstörungen, Kammerflimmern. Obwohl sofort Ärzte zur Stelle waren, haben sie das nicht in den Griff bekommen. Ihr Vater hat mir meinen Vater genommen. Meiner hat mich geliebt und gefördert. Vor allem in der Musik. Ohne ihn wurde alles zum Kampf. Jede Geigenstunde, jeder Auftritt, der Besuch des Konservatoriums. Ihr Vater hat mich dazu verdammt, an der Seite meiner Mutter aufzuwachsen. Ich habe ihn dafür gehasst.« In Christian Brandenbourgs Augen glimmten Funken. Aber einen Augenblick später verloschen sie bereits; er lächelte wieder. »Das ist lange her. Entschuldigen Sie, dass ich mich für einen Moment von den alten Gefühlen habe mitreißen lassen.«
* * *
Er starrte an die Decke. Im Verputz zeigten sich Risse, die sich verästelten wie feine Wurzeln, wie ein Gespinst blutleerer Adern.
Er hatte das nicht gewollt, hatte nicht gewusst, woher plötzlich diese Wut gekommen war. Und dann hatte ihn aller Mut verlassen. Das Böse war nicht immer in ihm gewesen. Es hatte sich unvermittelt eingestellt und von ihm Besitz ergriffen, in dem Moment, in dem man ihm alles genommen hatte. Es hatte seine Schutzlosigkeit genutzt, um die Macht seines Handelns an sich zu reißen.
Verstümmelte und zerstörte Leben hatte er gesammelt, dieser Marionettenspieler. Und eines davon war seines. Er würde die Verantwortung dafür nicht tragen, diese Freiheit war ihm geschuldet. Seine Strafe hatte er verbüßt. Lange vor der Tat.
Etwas zerriss ihn. Doch es gab eine Macht, die das verhindern konnte. Vielleicht. Allerdings fürchtete er sich vor ihr im selben Maß, in dem er sich nach ihr sehnte.
Er blickte zum Instrumentenkoffer. Darin lag sein Schicksal. Dann ließ er den Blick weiter über die Decke wandern, folgte den Spuren. War es möglich, das lose Ende aufzunehmen und dort anzuknüpfen, wo der Faden durchtrennt worden war?
Er wollte es wenigstens versuchen. Also gab er sich einen Ruck, stand auf und schaltete die Musik aus. Die schlagartig eintretende Stille umfing ihn wie ein Bote der Einsamkeit.
Er trat zum Koffer, öffnete ihn und nahm die Geige aus der Halterung. Das Holz fühlte sich warm und vertraut an. Obwohl er das Instrument lange nicht in Händen gehalten hatte, legte es sich bereitwillig in seine Arme. Erleichterung, Sehnsucht, Bestimmung. Er sog den Duft nach Kiefern- und Ahornholz ein. Nahm einen Hauch von Kolophonium wahr. Seine Finger wanderten über die Schnecke, das Griffbrett aus Ebenholz und die Saiten. Er fühlte Spannung in seine Fingerspitzen schneiden und ließ sie weiterwandern, wie über den Körper einer Frau, strich sanft an den Rändern der F-Löcher entlang bis zum Saitenhalter. Dann hob er das Instrument zum Kinn, ergriff den Bogen und blickte zum Notenständer. Sein Herz schlug plötzlich in wilden, schnellen Schlägen.
D ONNERSTAG , 23 . O KTOBER
Marc schnarchte leise. Caroline war schon seit einer Stunde wach und konnte nicht wieder einschlafen. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, ging in die Küche und kochte Kaffee.
Kurz nach Mitternacht hatte sie Marc vom Bahnhof abgeholt. Fröstelnd hatte sie am Bahnsteig gestanden, bis der Zug einfuhr, die Bremsen quietschten, sich der gerade noch menschenleere Bahnsteig füllte, und als sie ihn dann sah, wie er zerknautscht und mit vor Müdigkeit grauem Gesicht den Bahnsteig entlangging, plötzlich keinem Gott einer Sagenwelt mehr ähnlich, sondern ein ganz normaler Mann, der nach zwei anstrengenden Tagen müde nach Hause kam, war da eine Sekunde des Erkennens gewesen, ein kurzer Augenblick, der in ihr aufflammte: Ja, mit ihm könnte ich den Rest meines Lebens verbringen. Als er sie dann entdeckte, vertrieb die Freude alle Müdigkeit aus seinem Gesicht. »Caro?« Er nahm sie in die Arme. »Wie schön.« Hand in Hand waren sie zum Taxistand gegangen und in ihre Wohnung gefahren.
Die Maschine röchelte, der Kaffee war fertig. Caroline erwärmte Milch und setzte sich mit einem Becher Milchkaffee ans Fenster. Es war noch dunkel. Nur die Straßenlaternen spendeten Licht. Ein Auto fuhr um die Ecke.
Sie dachte an den gestrigen Abend. Er war nett verlaufen, bis auf Christian Brandenbourgs verbale
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