In weißer Stille
gerne mit mir ins Kino gegangen.«
Er konnte ihr doch nicht sagen, dass er schon den ganzen Nachmittag über Magenkrämpfe gehabt hatte. Aus Angst. Vater würde zwar im ersten Moment froh sein, aber was würde er tun, wenn er sich erholt hatte? Seinen eigenen Sohn anzeigen? Er war ja gar nicht der Sohn dieses Mannes, den er über alles geliebt hatte, für den er alles aufgegeben hatte, was ihm je etwas bedeutet hatte. Trotzdem. Seine einzige Chance war Ehrlichkeit. Wenn sie ihn verstand, würde sie ihn schützen, dann könnte er diese vermaledeite Uhr verschwinden lassen, und sie würde schweigen. »Tut mir leid. Das war nicht fair von mir. Dein Wunsch, ins Kino zu gehen, kam mir im Grunde gelegen. Vater war gesund und robust. Außerdem habe ich beinahe vierundfünfzig Stunden im Keller verbracht, und bei Vater waren es noch nicht einmal achtundvierzig.«
»Du hast es also auf Donnerstag verschoben. Aber da bist du auch nicht …« Sie führte die Hand überrascht zum Mund. »Herr Cernovsky …«
»Ich wollte schon … Ich bin früher in die Praxis. Du erinnerst dich?« Babs nickte. »Ich habe Infusionen geholt, um Vater versorgen zu können, und wollte gerade losfahren, als Frau Cernovsky durchs Treppenhaus gelaufen kam. Und als der Notarzt ihn dann übernommen hatte und ich wieder runter bin, da saßen im Wartezimmer schon die ersten Patienten.«
»Du hast Business as usual gemacht, während dein Vater … warum bist du nicht gefahren?«
Er wusste es ja selbst nicht!
»Du hast eine Woche lang nichts unternommen. Warum?«
»Ich weiß es nicht. Es war so, als ob …« Wie sollte er das beschreiben? Es war, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, mit dem die Angst, aber auch das Wissen darum, was in Münsing geschah, ausgeschaltet waren. »Ich habe ihn einfach vergessen, nicht mehr daran gedacht. Es war wie ein weißer Fleck auf der Landkarte.«
»Ein weißer Fleck auf der Landkarte.«
Sie äffte ihn schon wieder nach! »Herrgott noch mal, ja.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wie ausradiert. Weg, nie da gewesen. Ich habe es einfach vergessen!«, schrie er.
»Es!« Nun merkte sie selbst, dass sie zu weit gegangen war. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.
»Ihn. Meinen heißgeliebten Vater. Den großen Marionettenspieler. Ich habe ihn vergessen. Und als er mir in der Nacht auf Montag wieder eingefallen ist, da wusste ich, dass es zu spät war. Ich bin schließlich Arzt, wie du vorher sehr richtig angemerkt hast. Und als dann Frau Kiendel nachgefragt hat, ist mir klar geworden, dass ich etwas unternehmen musste.«
»Deshalb durfte ich nicht fahren.«
»Sehr scharfsinnig. Schließlich musste ich meine Spuren beseitigen. Oder denkst du, dass ich dafür ins Gefängnis gehen werde? Niemals! Ich habe meine Strafe schon verbüßt. Dreißig Jahre. Das ist mehr, als man für Mord bekommt.«
»Wer außer dir weiß, dass Wolfram nicht dein Vater ist?«
»Niemand.«
»Du baust also darauf, dass man dich nicht verdächtigen wird, weil du kein Motiv hast. Du denkst, man wird Bertram weiterhin für den Schuldigen halten.«
Albert zuckte mit den Schultern. »Na und? Er ist tot. So kann er mir wenigstens ein Mal einen Dienst erweisen.« Er bemerkte ein nervöses Zucken neben ihrem Augenlid, sah, wie sich ihre Schultern verspannten und sie die Finger ineinanderschob.
»Du weißt das noch gar nicht. Ich wollte es dir nicht am Telefon sagen. Caroline hat mich vorgestern angerufen … aber dann habe ich dich mit Margret Hecht … ich bin einfach nicht dazu gekommen.«
Ein Druck legte sich auf seine Brust wie eine bleierne Platte; jede Pore an seinem Körper zog sich zusammen, bis seine ganze Haut schmerzte, als sei er durch Brennnesseln gelaufen. »Wovon redest du?«
Ein Ruck ging durch Babs, der forschende Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. Sie setzte sich aufrecht hin. »Bertram wurde umgebracht. Er kann dir also keinen
Dienst
mehr erweisen. Du musst Dühnfort sagen …«
»Du dumme Pute!« Er zerrte sie vom Stuhl. Angst und Wut brannten in ihm wie Säure. Er schlug ihr ins Gesicht. Ihr blieb die Luft weg, keuchend rang sie nach Atem und entwand sich seinem Griff. Sie standen sich gegenüber wie Feinde. Und das waren sie nun auch. Niemals wieder würde sie an seiner Seite stehen. Er sah es in ihren Augen.
* * *
Was Dühnfort sah, beunruhigte ihn. Die Situation spitzte sich zu. Albert wurde aggressiv, zog seine Frau vom Stuhl, schlug sie und stieß sie von sich. Sie
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