In weißer Stille
Im Laufe der letzten drei Jahre hatte Henning zwar erfolgreich das Filialnetz aufgebaut, aber Gilles’ Favoritin war offensichtlich Caroline. Und das war wiederum ganz in ihrem Sinne. Ihre Berufung in den Vorstand sollte das Sprungbrett zur richtig großen Karriere werden. Das Einzige, was ihr aus heutiger Sicht in die Quere kommen konnte, war der Mord an ihrem Vater. Das Haus Kerity betrieb eine konsequente Markenpolitik, nichts durfte den Namen beschädigen. Erst im vergangenen Jahr hatte der Personalleiter den goldenen Handschlag bekommen. Seine publicitygeile Ehefrau hatte ihre aufgeblasenen Brüste mit voller Atüzahl in die Kamera eines Klatschreporters gehalten. Das Bild war auf der Tittenseite einer Boulevardzeitung erschienen.
Schoko-Chantals süße Bomben.
In den fünf Textzeilen zum Bild wurde der Name Kerity erwähnt. Keine Woche später hatte Schoko-Chantals Gatte seinen Schreibtisch geräumt.
Caroline spürte, wie ihre Schultern sich verspannten. Bertram, dieser Arsch. Wenn ihr Name in einem Atemzug mit einem Mord und ihrem Arbeitgeber genannt wurde, konnte sie sich ihre Karrierepläne abschminken.
Für einen Moment machten sich wieder Zweifel in ihr breit. Vielleicht war es doch Raubmord gewesen. Aber sie glaubte nicht wirklich daran. Bertram war skrupellos, er stand unter Druck, und er hatte ein Motiv. Er musste es gewesen sein. Wer sonst?
Sie brauchte einen Plan. Falls Bertram als Vatermörder von den Medien durchgehechelt wurde, durfte ihr Name nicht fallen. Vielleicht sollte sie doch Marcs Heiratsantrag annehmen. Wie lange musste so ein Aufgebot hängen? Vier Wochen? Ob das zu schaffen war? Caroline lachte. Was waren das nur für Gedanken! Sie konnte unmöglich Marcs Gefühle auf diese Weise missbrauchen. Und außerdem würde sie nie heiraten, diesen Entschluss hatte sie schon vor Jahren gefasst. Die Ehe ihrer Eltern hatte dazu entscheidend beigetragen.
Sie massierte sich eine verspannte Schulter und starrte auf den Monitor ihres Laptops. Er zeigte die Graphiken für die Budgetplanung einer Produktlinie. Trotz Trauerfall hatte sie die Präsentation heute Morgen durchgezogen, eben ganz Profi. Allerdings hatte Gilles Winterboom, nachdem er ihr sein Beileid ausgesprochen hatte, gefragt, ob sie nicht Urlaub nehmen wolle. Daraufhin hatte sie ihm für seine mitfühlenden Worte gedankt und erklärt, die Arbeit bereite ihr Freude und bewahre sie so vor dem Grübeln. Schließlich konnte sie nicht sagen, dass der Mord an ihrem Vater sie kaum berührte, das hätte gefühllos gewirkt. Und Gefühlskälte machte zwar aus Männern echte Kerle, Frauen dagegen wurde sie nicht verziehen.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Tanja Wiezorek, Carolines Sekretärin, meldete sich. »Der Pförtner hat gerade angerufen. Eine Polizistin ist auf dem Weg nach oben. Kann ich sie gleich vorlassen?«
»Wenn sie gut in ihrem Job ist, wird sie sich nicht aufhalten lassen. Versuchen Sie es trotzdem mit einer Tasse Kaffee. Zwei Minuten zum Durchatmen wären nicht schlecht.«
Sie musste sich entscheiden. Sollte sie der Polizistin sagen, was sie befürchtete? Die Vorstellung, als Anklägerinihres Bruders aufzutreten, verursachte ihr eine Gänsehaut. Oder sollte sie sich an Vaters Maxime orientieren?
Eine Familie muss zusammenhalten.
Dieses Bild hatte jedoch spätestens seit Mutters Tod Risse bekommen. Eigentlich hatte die Farbe schon lange vorher gebröckelt. Zwar hatte Vater zum Pinsel gegriffen und versucht, es instand zu setzen, aber es war ihm nicht gelungen. Sie selbst würde es gar nicht erst versuchen. Es war sein Bild und nicht ihres. Um keinen Preis der Welt würde sie sich als Restauratorin betätigen.
Sie hatte nie verstanden, weshalb Vater so übertriebenen Wert auf den Eindruck gelegt hatte, den seine Familie machte. Dieses Bild war eine Fälschung gewesen. Zudem hatte es ihn nicht gekümmert, was sich unter dieser oberflächlichen Schicht verbarg. Außen hui und innen pfui. Er war weder ein treuer Ehemann noch ein liebevoller Vater gewesen. Schon als Kind hatte Caroline gespürt, dass er sie nicht wirklich wahrnahm. Irgendwann hatte sie ein Lied gehört:
Ich bin durchsichtig, andere Leute sehen mich nicht
… Ja! Genau! So war das gewesen. Für Vater schien einzig Albert zu zählen, und der würde natürlich an diesem Zerrbild festhalten. Er hatte Vaters Maxime über den Zusammenhalt der tollen Familie Heckeroth verinnerlicht. Sicher hatte er der Polizei nicht gesagt, dass Bertram sich von ihm und ihr
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