In weißer Stille
Uhr, Zeit für die Besprechungsrunde im kleinen Kreis. Dühnfort stand auf, um das Fenster zu schließen. Ein kalter Wind rupfte die gefärbten Blätter von den Bäumen und wirbelte sie durch die Löwengrube. Passanten hasteten über den Platz, Schirme über gesenkte Köpfe haltend wie Schutzschilde. Er mochte den Herbst nicht.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Agnes hatte ein Faible für Lyrik. Durch sie hatte er die Schönheit von Gedichten entdeckt, die er zu Schulzeiten als sentimentalen Kram abgetan hatte. Das war jedoch alles, was sie mit ihm teilte, außer dem Bett natürlich. Sie schloss ihn aus ihrem Leben aus. Aber er wollte nicht alleine alt werden.
»Alles okay, Tino?«
Er riss sich vom Fenster los und ging zum Besprechungstisch in der Ecke. »Natürlich.«
Gina setzte sich, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, griff nach ihren Unterlagen und schob die Blätter zu einem akkuraten Stapel zusammen. »Ich habe morgeneinen Arzttermin. Kann sein, dass ich etwas später komme. Das ist doch kein Problem, oder?«
»Natürlich nicht.« Er wollte nicht fragen, obwohl Gina in den letzten Tagen angespannt gewirkt hatte.
»Nur ’ne kleine Inspektion.« Sie lächelte, aber dieses Lächeln war nicht so wie sonst. »Mit Caroline Heckeroth habe ich gesprochen. Ein Eisberg im Chanelkostümchen. Der Tod ihres Vaters scheint sie nicht sehr zu treffen. Am fraglichen Montag war sie in Brüssel. Sie hat übrigens einen Doktortitel in Betriebswirtschaft. Scheint in der Familie zu liegen. Wer ihrem Vater das angetan hat, kann sie sich nicht vorstellen.«
Alois kam herein. Das Sakko hatte er abgelegt. Das weiße Hemd und die Anzugweste sahen aus wie frisch aus der Wäscherei, und das am Ende eines arbeitsreichen Tages. Er setzte sich in die Runde. »Von Heckeroths Auto fehlt noch immer jede Spur. Die Taucher machen weiter, aber der Suchtrupp im Wald ist fertig. Nullaktion. Die Kontodaten liegen vor. Die letzte Abhebung hat Heckeroth senior selbst vorgenommen: fünfhundert Euro am Schalter seiner Filiale. Das war am Donnerstag vor dem Überfall. Seitdem gibt es keine Kontobewegungen und auch keinen Versuch, am Geldautomaten Geld zu ziehen. Die Kreditkarte ist seit Monaten nicht benutzt worden.«
Dühnfort lehnte sich zurück. Sein Gefühl schien ihn nicht getrogen zu haben. »Entweder war es den Tätern doch zu riskant, die Karten einzusetzen, oder sie hatten die Sachen nur zu dem Zweck entwendet, einen Raubüberfall vorzutäuschen. Was ist mit dem Schlüssel?«
»Im Haus ist er nicht und, wie gesagt, im Wald lag er auch nicht. Vielleicht im See versenkt, oder aber sie haben ihn mitgenommen.«
»Sollen wir die Raubmordhypothese weiterverfolgen?« Alois hakte die Daumen in die Armausschnitte der Weste.
»Im Moment hat sie nicht erste Priorität. Es gibt zwei neue Ansätze. Erstens: Bertram hat Schulden, sein Haus soll versteigert werden. Kannst du sein Alibi prüfen?« Dühnfort gab Alois die Daten. »Und nimm ihn auch sonst unter die Lupe. Und zweitens habe ich das hier in Heckeroths Wohnung gefunden.« Dühnfort legte das Album auf den Tisch.
Alois griff danach, drehte es so, dass auch Gina es sehen konnte, und begann zu blättern. Ihre Lippen kräuselten sich. Alois pfiff leise durch die Zähne.
»Heckeroth war gefesselt«, sagte Dühnfort. »Vielleicht ein Zufall, vielleicht auch nicht. Wir sollten mit den neuesten Aufnahmen beginnen und uns dann in die Vergangenheit vorarbeiten. Wer sind die Frauen? Hat Heckeroth ihnen Gewalt angetan? Hatte jemand Grund, sich zu rächen? Bertram denkt, dass sein Vater sie
überzeugt
hat mitzumachen. Er bezeichnet ihn als
den großen Manipulator.«
»Die sind alle ganz schön jung«, sagte Alois und schob das Album zu Gina.
Gina kaute auf der Unterlippe. Dann wies sie auf einen weißen Kittel, der in ein Bild ragte. »Vermutlich sind hier etliche seiner Sprechstundenhilfen verewigt.«
Dühnfort betrachtete die Aufnahme. »Sicher können Heckeroths Kinder einige der Frauen identifizieren. Hast du schon die Daten der Telefongesellschaft?«
Gina schüttelte den Kopf. »Morgen.«
»Sind inzwischen alle Hausbewohner befragt worden?«
»Bis auf eine Frau Kiendel«, erwiderte Gina. »Diehabe ich noch nicht erwischt. Zuerst war sie in der Arbeit und dann wohl bei ihrer Tochter. Die hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus, hat mir eine
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