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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Nachbarin erzählt.«
    »Gut, das kann auch bis morgen warten.«
    Das Telefon auf Dühnforts Schreibtisch klingelte. Buchholz war dran. Er hatte herausgefunden, woher die Kopfverletzung stammte. Am Couchtisch gab es winzige Blut- und Gewebespuren, in denen ein graues Haar klebte. »Die Spuren stammen von Heckeroth senior. Der Mann ist gestürzt.«
    * * *
    Eine halbe Stunde später machte Dühnfort sich auf den Heimweg. Er hatte weder Lust, essen zu gehen, noch, groß zu kochen. Also etwas Schnelles. In der Lebensmittelabteilung von Kaufhof besorgte er frische Tagliatelle, ein paar Scheiben Räucherlachs, gefrorenen Blattspinat und als Nachspeise eine Tafel Schokolade. Noir, mit achtzig Prozent Kakaoanteil.
    Als er die Sendlinger Straße entlangging, begann es zu regnen. Zuerst nur vereinzelte Tropfen, aber innerhalb von Minuten wurde ein Platzregen daraus. Merde. Er schlug den Mantelkragen hoch und beschleunigte seine Schritte. Am Sendlinger-Tor-Platz stieg er ins Zwischengeschoss des U-Bahnhofs hinab und erklomm auf der anderen Seite wieder die Oberfläche. Fünf Minuten später betrat er seine Wohnung.
    Stille empfing ihn, als sei er plötzlich abgeschnitten von der Welt. Er stellte die Einkäufe auf den Küchentisch und verschwand im Bad, um eine heiße Dusche zu nehmen. Danach schlüpfte er in frische Kleidung und ging in die Küche. Die Dielen knarrten. In der Wohnung unter ihmlief der Fernseher. Dühnfort legte eine Dylan-CD in den Player.
    Eigentlich hätte er vor einigen Wochen ausziehen sollen. Doch die Tochter seines Vermieters hatte ihre Pläne geändert und würde nicht in München studieren, sondern für ein Jahr nach Amerika gehen. Und wer wusste schon, was dann war?
    Dühnfort mochte seine Wohnung mit Aussicht auf den Alten Südfriedhof. Ein Leben ohne den Blick auf efeuüberwucherte Gräber, vom Zahn der Zeit angenagte Grabsteine und zerbröselnde Marmorengel wollte er sich nicht vorstellen. Er öffnete die Tür, die auf den winzigen Balkon führte, und ging hinaus. Es war dunkel geworden. Vereinzelt flackerten ewige Lichter zwischen den Gräbern, der Wind fuhr durch die Bäume, als wollte er noch in dieser Nacht die letzten Blätter von den Ästen schütteln. Dühnfort fröstelte und kehrte zurück in die Küche.
    Er entkorkte eine Flasche Pinot Grigio, schenkte ein Glas voll und nahm einen Schluck. Eigentlich ein Sommerwein. Aber irgendeine Form von Widerstand wollte er dem Herbst entgegensetzen. Während Bob Dylan von unerfüllter Liebe sang, setzte Dühnfort Nudelwasser auf, schob den Blattspinat zum Auftauen in die Mikrowelle und erhitzte Sahne in einem Topf. Als das Wasser kochte, warf er die Tagliatelle hinein, rührte Salz und Pfeffer unter die Sahne, gab frisch geriebenen Parmesan dazu und schmeckte die Soße mit einem Spritzer Zitronensaft ab. Dann schnitt er den Räucherlachs in Streifen, drückte den Spinat aus und zupfte ihn auseinander. Als die Nudeln fertig waren, richtete er sie auf einem Teller mit Soße, Lachs und Spinat an. Zehn Minuten. So mochte er Fastfood.
    Mit dem Teller setzte er sich vor den Fernseher im Wohnzimmer. Die Nachrichten waren schon vorbei. Der Moderator des Wetterberichts kündigte weitere Regenfälle und sinkende Temperaturen an. Dühnfort trank das Glas leer und ging in die Küche, um es neu zu füllen. Sicher trieb er nicht nur zu wenig Sport, sondern trank auch zu viel. Die Nudeln schmeckten ausgezeichnet, der zarte Geschmack des Spinats und die kräftigen Aromen von Räucherlachs und Parmesan kontrastierten perfekt miteinander.
    Entspannt lehnte Dühnfort sich zurück und schaltete den Fernseher aus. Die Schokolade lag in der Küche, er holte sie und nahm auch noch die Weinflasche mit.
    Vierundzwanzig Stunden. Gestern um diese Zeit hatte er in Heckeroths Badezimmer gestanden. Eine Woche lang hatte niemand ahnen können, dass hinter den Holzwänden dieses verlassen wirkenden Hauses ein Mann mit dem Tode rang. Welches Motiv mochte es für eine derart grausame Tat geben? Der alte Mann hatte tagelang gelitten. Anfangs war er sicher wütend und vielleicht auch verängstigt gewesen. Er hatte versucht, sich zu befreien, aber die Riemen waren zu fest, das Leder scheuerte die Haut auf. Die Rippen des Heizkörpers drückten ihm in den Rücken. Es war warm, er wurde durstig. Er wusste nicht, ob es Tag oder Nacht, und auch nicht, wie spät es war. Er hatte nichts, woran er sich orientieren konnte, nur die Hoffnung, dass man ihn rechtzeitig finden würde.
    Er war Arzt.

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