In weißer Stille
Er wusste, was ihm bevorstand. Zuerst kam der Durst, der schnell quälend wurde, später der Hunger und dann die Verzweiflung. Er hatte an seinen Fesseln gezerrt, er hatte um Hilfe gerufen. Stunde um Stunde. Immer wieder. Tagelang. Bis Resignation überihn hereingebrochen war. Schließlich hatte er aufgegeben, mit seinem Leben abgeschlossen.
Wer war zu einer solchen Tat fähig? Wie konnte der Täter es ertragen zu wissen, was mit dem alten Mann geschah? Vier lange Tage und Nächte? Wieso hatten ihn weder Mitleid noch Schuldgefühle überwältigt und das Ganze abbrechen lassen?
M ITTWOCH , 15 . O KTOBER
Albert telefonierte in seinem Arbeitszimmer. Babs hörte seine Stimme bis in die Küche. Sie war erleichtert, dass er ihr das Gespräch mit den Jungs abgenommen und ihnen erklärt hatte, was ihrem Opa widerfahren war. Offensichtlich hatte er es gut gemacht, denn sie hatten relativ gefasst reagiert. Nun waren sie in der Schule. Es war besser, wenn das Leben für sie in den gewohnten und Sicherheit gebenden Bahnen verlief.
Babs räumte die Spülmaschine ein und wischte den Tisch ab. Ihr Blick fiel auf die Tür zur Speisekammer. Diesen winzigen Raum als Arbeitszimmer herzurichten würde Tage dauern. Zeit, die sie momentan nicht hatte. Vorerst musste ihr der Küchentisch genügen. Sie holte Block und Stifte, um die ersten Skizzen zu einem präsentationsfähigen Entwurf auszuarbeiten. Mit sicherem Strich schraffierte sie eine Wandfläche. Wie altmodisch und umständlich ihre Arbeitsweise doch war. Irgendwie musste sie kaschieren, dass sie noch keinen Computer hatte. Aber wie? Vielleicht, indem sie die Entwürfe mit Markern und Buntstiften illustrierte? Das war eine Möglichkeit. Das Klingeln an der Wohnungstür riss sie aus ihrer Überlegung. Albert telefonierte noch immer.
Also stand sie auf und öffnete. Es war Bertram. Überrascht sah sie ihn an.
»Du kannst den Mund wieder zumachen.«
Wie immer hatte er einen dummen Spruch parat. »Was willst du?«
»Mit Albert reden.« Bertram schob sich an ihr vorbeiin die Wohnung, zog den Mantel aus und reichte ihn ihr, als sei sie die Haushälterin. »In der Praxis ist mein Bruderherz nicht, also nehme ich an, dass er sich hier ganz seiner Trauer hingibt.«
Babs wollte keinen Streit, deshalb schluckte sie ihren Ärger herunter und hängte den Mantel auf einen Bügel. »Albert ist in seinem Arbeitszimmer.«
Bertram steuerte darauf zu und trat ein, ohne anzuklopfen. Sie kehrte in die Küche zu ihren Entwürfen zurück.
Was Bertram wohl wollte? Albert hatte ihn hinausgeworfen, nachdem er erfahren hatte, dass Bertram ihm mit falschen Zahlen und erfundenen Aufträgen ein Darlehen für sein Architekturbüro aus der Tasche gezogen hatte. Seither verkehrten die Brüder über ihre Anwälte. Sogar die Nachricht von Wolframs Tod hatte Albert durch Caroline an Bertram übermitteln lassen.
Alberts und Bertrams Stimmen drangen gedämpft zu ihr in die Küche. Vielleicht wollte er sich ja mit Albert aussöhnen. Er würde erben und konnte seine Schulden begleichen. Sein Tonfall hatte allerdings nach Streit geklungen. Und selbst wenn Bertram seinem Bruder die Hand zur Versöhnung reichte: Babs bezweifelte, dass Albert sie ergreifen würde. Schon von klein auf hatten die beiden sich mit zuverlässiger Regelmäßigkeit in den Haaren gelegen. Schon immer hatte Albert seinen Status als Thronfolger verteidigt. Bertram hatte es ihm allerdings leicht gemacht. Dieser Sturkopf. Gerade das, was von ihm erwartet wurde, tat er nicht. Babs fragte sich, ob er jemals etwas getan hatte, das er selbst wollte, oder ob seine Entscheidungen noch immer darauf gründeten, es dem Alten zu zeigen. Wie damals bei seiner Berufswahl.
Mit achtzehn hatte Bertram etwas entdeckt, das weichenstellend für sein Leben wurde: das Familiengeheimnis, den totgeschwiegenen Onkel Siegfried. Wolframs Bruder war nicht nur Architekt gewesen, sondern auch ein begnadeter Verkäufer und Schaumschläger. In den Fünfzigerjahren hatte er einen Gebäudekomplex mit Eigentumswohnungen geplant, potentiellen Käufern Anzahlungen aus der Tasche gezogen und sich dann mit dem Geld nach Argentinien abgesetzt, wo er in den Siebzigerjahren unter dubiosen Umständen ums Leben gekommen war. Als Bertram herausfand, dass er alleine mit der Erwähnung dieses Onkels seinen Vater auf die Palme bringen konnte, wurde Siegfried zu seinem Vorbild – auch bei der Berufswahl. Allerdings war Bertram kein guter Architekt, kein kreativer Mensch, kein
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