In weißer Stille
Schuss losging. Übernächsten Montag bei der Vorstandssitzung. Dann würde er sein Konzept der Erweiterung des Filialnetzes durchsetzen. Das jedenfalls trommelte der Buschfunk. Henning plante die Expansion mit Franchisepartnern. Und um die zu gewinnen, benötigte er ein Marketingbudget, das allerdings in der Jahresplanung nicht enthalten war. Also hoffte er darauf, ihr Gelder entziehen zu können, die sie bereits für die erfolgreiche Produkteinführung der Herbstpralinen eingeplant hatte.
Caroline hatte mittlerweile ihr Netzwerk genutzt und eine neue Agentur aufgetan, die zu wesentlich günstigeren Tagessätzen arbeitete als der bisherige Partner
adhoc.
Für die Mediaplanung lagen erste Ideen vor, wie das Werbebudget effektiver zu nutzen sei. Zusammen mit der eisernen Reserve, die sie immer in der Rückhand hatte, schaufelte sie so genügend Gelder frei, um die Produkteinführung und die Werbemaßnahmen zur Partnergewinnung erfolgreich über die Bühne zu bringen. Die Präsentation bei der Vorstandssitzung würde ihre große Stunde werden. Lediglich Gilles musste noch vom Agenturwechsel überzeugt werden, aber das war sicher kein Problem. Zufrieden stellte sie in der nächsten Stunde die Meilensteinplanung fertig. Danach gönnte sie sich eine Tasse Kaffee, um sich zu entspannen. Ihre Gedanken landeten jedoch im Handumdrehen beim Tod ihrer Eltern.
Sie hatte ihre Mutter geliebt, auch wenn die das kaum wahrgenommen hatte. Das wenige an Gefühlen, das ihr zur Verfügung stand, hatte sie an Albert und Bertram verschwendet. An ihrem Sterbebett hatte jedoch keiner derbeiden gesessen, sondern sie, Caroline. Sie hatten letzte Worte gesprochen, Caroline hatte ihr das Versprechen gegeben, das Tagebuch und die Briefe zu vernichten, und kurz drauf war ihre Mutter friedlich eingeschlafen. Dieser Abschied war schmerzlich gewesen, aber auch auf eine Art gut und richtig. Von Vater hatte sie sich nicht verabschieden können, was weh tat wie eine offene Wunde. Und das, obwohl sie ihm so gleichgültig gewesen war wie er zum Schluss ihr. Seit Alberts Anruf Montagnacht wartete sie darauf, dass sich in ihr ein Schalter umlegte und die Tränen flossen, dass Trauer und Verzweiflung sich den Raum nahmen, der ihnen zustand. Warum geschah das nicht?
Vielleicht weil sie ihren Vater nicht geliebt hatte. Wie auch? Wie konnte man einen Menschen lieben, für den man Luft war? Immer hatte Albert im Mittelpunkt gestanden. Und Bertram, allerdings auf andere Art. Bertram, der immer Ärger machte und so im Fokus stand, das schwarze Schaf, der ungeliebte Sohn, an dem der Herr Papa sich die Zähne ausbiss. Zum Ausgleich erfüllte Albert ruhig und gewissenhaft all die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden. Und Caroline war in diesem Bermudadreieck aus Vater und Söhnen verschwunden.
Sie hatte ein besseres Abitur gemacht als Albert, aber er hatte ein Auto bekommen, sie dagegen eine scheußliche Armbanduhr und einen Einkaufsgutschein für die Unibuchhandlung. Sie hatte Betriebswirtschaft studiert und nebenbei ein Fachbuch über Controlling in mittelständischen Betrieben veröffentlicht. Doch alles, was sie zu hören bekommen hatte, war, Albert könnte das auch, wenn sein Studium nicht so anstrengend und zeitintensiv wäre.
Caroline seufzte. Das alles lag hinter ihr. Sie hatte eslängst aufgegeben, um die Anerkennung, geschweige denn die Liebe ihres Vaters zu buhlen.
Das Telefon klingelte. Tanja Wiezorek kündigte Gina Angelucci an. »Sie ist schon oben. Haben Sie Zeit?«
Konnten Beamte nicht wie normale Menschen Termine vereinbaren? »Eigentlich nicht. Aber das ist vermutlich kaum von Belang.«
Einen Augenblick später betrat die Polizistin den Raum. Ihre Jeansjacke war vom Regen fleckig. »Es dauert nicht lange.« Sie zog die Jacke aus, legte sie auf einen Besucherstuhl und setzte sich. An mangelndem Selbstbewusstsein litt sie nicht, das hatte Caroline schon gestern festgestellt. »Wir haben in der Wohnung Ihres Vaters ein Fotoalbum gefunden. Ich wollte Sie bitten, sich die Bilder anzusehen. Ein Teil unserer Ermittlungen konzentriert sich darauf. Es würde unsere Arbeit erleichtern, falls Sie einige der Frauen identifizieren könnten.«
Was für ein Album? Hatte Vater Fotografien seiner Freundinnen in Sammelbände gesteckt, so wie andere Leute Briefmarken? Sollte sie jetzt tatsächlich Vaters Harem beim Namen nennen? Wo doch nicht einmal Mutter über die jeweils aktuelle Geliebte Bescheid gewusst hatte. Caroline hätte sich das an ihrer Stelle
Weitere Kostenlose Bücher