In weißer Stille
Deine
Schnuppe
unterschrieben hatte, sowie den Durchschlag von Heckeroths Antwortbrief. Merkwürdig. Dühnfort besah sich noch eine Reihe weiterer Kuverts, beinahe alle enthielten eine Kopie des Antwortschreibens. Weshalb hatte Heckeroth Duplikate seiner Briefe aufbewahrt? Die Macht der Worte. Stellten die Briefe eine Ergänzung zu den Fotografien dar?
In Dühnfort entstand das Bild eines einsamen alten Mannes, den die Kräfte verlassen hatten und jegliche Attraktivität, der hinfällig geworden auf die Hilfe anderer angewiesen war und den dieser Verlust von Selbständigkeit kränkte; ein Mann, der in einsamen Stunden, die vielleicht Verzweiflung bargen, nach diesem Karton griff wie nach einem Rettungsring.
Dühnfort nahm einen Brief nach dem anderen heraus und suchte nach Namen. Keiner enthielt mehr als einen Kosenamen –
Schnuppe, Sternchen, Prinzessin
–, geschweige denn eine Adresse. Er legte den Deckel wieder auf die Schachtel und stellte sie zurück. In einem Regal reihten sich Aktenordner. Sie enthielten die Steuererklärungen der vergangenen Jahre, Kontoauszüge und Telefonrechnungen. In einigen Ordnern waren Unterlagen abgeheftet, die das Haus betrafen. Mietverträge, Handwerkerrechnungen, Verträge für eine Hypothek. Nichts Ungewöhnliches.
Ein Schlüssel drehte sich in der Wohnungstür. Einen Moment später fiel die Tür ins Schloss. Dühnfort ging in den Flur. Eine mollige Frau mit blondem Lockenschopf kam ihm entgegen. Sie trug einen Korb voller gebügelter Wäsche, den sie beinahe fallen ließ, als sie Dühnfort sah. Aber dann straffte sich innerhalb eines Sekundenbruchteils jeder Muskel und jede Sehne an ihr. »Was tun Sie hier? Ich schreie das ganze Haus zusammen, wenn Sienoch einen Schritt näher kommen.« Sie sog Luft ein, ihr Körper spannte sich noch mehr. Dühnfort befürchtete, sie könnte jeden Moment zu kreischen anfangen. Er zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn hoch. »Frau Kiendel? Entspannen Sie sich, ich gehöre zu den Guten.«
»Meine Güte.« Ein musternder Blick streifte die Karte und dann ihn. »Einen Kriminalhauptkommissar habe ich mir anders vorgestellt«, sagte sie, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Sie sind doch Frau Kiendel?«
Die Frau nickte. »Ich wollte nur die Wäsche bringen.« Sie erklärte, dass sie die am Montag aus dem Korb im Bad mitgenommen und gewaschen und gebügelt hatte. »Ich meine, er braucht sie ja nicht mehr, aber trotzdem muss ich sie aufräumen.«
Dühnfort schlug vor, sich zu setzen, und ging ins Esszimmer voran. Sie stellte den Korb ab und nahm ihm gegenüber am Tisch Platz. Natürlich habe sie gewusst, dass Heckeroth senior an den See fahren würde und wann er zurückkommen wollte. Außerdem sei sie diejenige gewesen, die zuerst bemerkt hatte, dass ihr Vermieter nicht nach Hause gekommen war. Dühnfort fragte, ob Heckeroth Feinde oder mit jemandem Streit gehabt hatte.
»Nein. Bestimmt nicht.« Energisch strich sie sich die blondgefärbten Locken aus der Stirn. »Er war ein feiner Mensch, ein echter Gentleman. Als mein Mann mich verlassen hat, hätte ich mir die Wohnung eigentlich nicht mehr leisten können. Da hat Herr Heckeroth vorgeschlagen, die Miete zu kürzen, wenn ich seiner Frau dafür im Haushalt helfe. Ich meine, sie war ja schwerkrank. Jeder andere Vermieter hätte nur geguckt, dass er sein Geld pünktlich kriegt. So war Herr Heckeroth nicht. Immernett. Er hat meiner Tochter sogar kostenlos Nachhilfe in Französisch gegeben. Sonst wäre sie letztes Jahr sitzengeblieben. Er war wirklich ein feiner Mann. Dieses Pack, das ihn umgebracht hat, sollte man für immer wegsperren.«
»Gab es einen besonderen Grund, weshalb Sie am Samstag mit Heckeroth telefoniert haben?«
»Wir haben am Samstag nicht miteinander telefoniert.«
»Aber von Ihrem Apparat aus wurde an diesem Tag ein Gespräch mit ihm geführt.«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Vielleicht hat Franziska, meine Tochter, mit ihm telefoniert. Ich wüsste zwar nicht, weshalb … obwohl, sie muss in Französisch ein Referat halten. Vielleicht wollte sie, dass er es sich anhört …« Ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz. »Aber das ist ja jetzt hinfällig.«
Er erinnerte sich, dass Gina einen Unfall erwähnt hatte. »Es tut mir leid. Ich habe gehört, Ihre Tochter liegt im Krankenhaus.«
Sie flocht die Hände ineinander. »Seit zehn Tagen schon. Ein Achtzehnjähriger, der gerade den Führerschein gemacht hat, ist einfach
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