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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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zum Meeting am Montag vorliegen.«
    »Noch ein Leben, das wir auseinanderpflücken müssen«, sagte Gina.
    Der Satz könnte von mir sein, dachte Dühnfort und sah aus dem Fenster. Nieselregen hatte eingesetzt. Im Hinterhof stand eine Linde, deren Äste beinahe kahl waren. Sie hoben sich schwarz und vor Feuchtigkeit glänzend von der hellgrauen Hauswand ab, wie skelettierte Finger. Würde die Sonne in diesem Oktober denn nie scheinen? Würde dieser trostlose Herbst nahtlos in einen kalten Winter übergehen?
    »Alles in Ordnung?«
    Dühnfort wandte seinen Blick Gina zu. Ihre Schokoladenaugen hatten einen besorgten Schimmer angenommen.
    »Natürlich.«
    »Du wirkst bedrückt. Wie geht es mit dir und Agnes?«
    Er hatte ihr nie von dieser komplizierten Beziehung erzählt, aber deren Anfang im Sommer hatte Gina mitbekommen. Die Direktheit ihrer Frage überraschte und überrumpelte ihn. »Wir haben uns getrennt.«
    »Oh. Das tut mir leid. Schlimm für dich?«
    »Ja. Und wie steht es bei dir? Kein Nachfolger für Lars in Sicht?« Er war entsetzt über sich. Das ging ihn nichts an, und dadurch, dass er nun Gina zu nahe trat, machte er ihre Distanzlosigkeit nicht ungeschehen.
    Gina zog die Schultern hoch. »Kennst du den Film
Vier Hochzeiten und ein Todesfall?«
    Dühnfort schüttelte den Kopf. Wann war er überhaupt das letzte Mal im Kino gewesen?
    »Mir geht es wie Fiona. Ich bin schon lange in einen Typen verknallt, aber der liebt eine andere. Wie das halt meistens so ist.«
    Jemand klopfte. Es war Dorothee, die den Kopf ins Zimmer steckte und sich hilfesuchend umsah. »Ich finde das Rezept für den Lammbraten nicht. Ist es vielleicht hier?«

M ONTAG , 20 . O KTOBER
    Am Sonntag, im Morgengrauen, war Dühnfort auf einem Sofa aufgewacht, das er nach einem Moment der Orientierungslosigkeit als das in Ginas WG-Wohnzimmer identifiziert hatte. Ihm war sterbenselend zumute gewesen, und der noch in der Luft hängende Geruch nach Lamm und Bohnen hatte ihm den Rest gegeben und ihn auf die Toilette getrieben. Als er wieder auf der Couch lag, erschien Xenia, die zu einem Dreh bei Sonnenaufgang musste.
    »Talking to Jesus with the big white telephone.« Sie grinste, breitete die Arme aus, als ob sie eine Toilettenschüssel umfasste und röhrte, als müsse sie sich jeden Augenblick übergeben: »O Jesus!« Dann verschwand sie und kam einen Moment später mit Aspirin und einem Glas Wasser zurück. Beides nahm er dankend an, während er sich ärgerte, dass er es so weit hatte kommen lassen.
    Dorothees Frage nach dem Rezept für Lammbraten hatte dazu geführt, dass er für alle gekocht hatte. Eine italienische Mama, die nicht kochen konnte, man stelle sich das vor. Allerdings war sie keine italienische Mama. Sie stammte aus Miesbach. Während er Knoblauch stiftelte und den Braten damit spickte, erzählte sie ihm die Familiengeschichte.
    Ginas Vater stammte aus Landshut. Dort hatte seine Ururgroßmutter 1877 den Mailänder Tuchhändler Giuseppe Angelucci geheiratet, dessen Kutsche auf der Rückreise vom fürstlichen Hof zu Regensburg einenRadbruch erlitten hatte. Bei der Reparatur in der Landshuter Schmiede hatte sich der Händler in die Tochter des Schmieds verliebt. Die daraus resultierende Ehe hatte die Dynastie der bayerischen Angeluccis begründet. »Und darauf trinken wir jetzt einen schönen Merlot aus dem Veneto«, hatte sie gesagt und stolz einen muffigen Supermarktfusel kredenzt, als sei es ein Piemonteser Barolo. Er hatte einfach nicht ablehnen können, ohne sie zu kränken. Der Wein war eine Katastrophe gewesen. Und nach dem Essen hatte Ginas Vater Bodo auch noch Ramazotti serviert. Natürlich war es nicht bei einem geblieben. Trotzdem war es ein schöner Abend gewesen, an dessen Ausklang Dühnfort allerdings jegliche Erinnerung fehlte.
    Das war nun einen Tag her. Als der Wecker klingelte, war nur noch ein leichtes Wattegefühl geblieben. Dühnfort schwang die Beine aus dem Bett, ging in die Küche, stellte die Espressomaschine an und stieg dann unter die Dusche. Als er aus dem Bad kam, war die Maschine aufgeheizt. Er braute sich einen Espresso doppio und wusste nach dem ersten Schluck, dass er ihn vertrug.
    Als er die Wohnung verließ, war das Wattegefühl verschwunden. Am Himmel türmten sich Wolken, ein kalter Wind pfiff durch die Straße, kühle Feuchte lag in der Luft. Dühnfort schlug den Mantelkragen hoch und entschloss sich, einen kleinen Umweg zu machen. Die Tore des alten Südfriedhofs waren bereits geöffnet.

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