In weißer Stille
Morgendliche Ruhe empfing ihn. Der Wind rüttelte an den Bäumen, gefärbtes Laub sammelte sich wirbelnd in Ecken, bedeckte Wege und Gräber, wie ein maroder Teppich, dessen Kettfäden sich lösten und die bunten Knoten freigaben. Dühnfort ging an einer Reihe verwitterter und von Efeu überwucherter Grabsteine vorbei. Auf anderen Steinenlas er Namen und Berufe, Nachrufe.
Privatier, Brauereibesitzersgattin … innigst geliebter Gatte … blieb auf dem Feld der Ehre.
Das stand auf dem Grabstein eines jungen Mannes, der 1917 bei Verdun gefallen war. Was für ein Feld der Ehre sollte das sein, fragte Dühnfort sich, vor dessen geistigem Auge sich das Bild eines Jungen aufbaute, der elend im Dreck verreckt war. Wie hatte Frau Kiendel gesagt?
Das Schreckliche wird doch nicht dadurch besser, dass man es nicht beim Namen nennt.
Doch. Worte sind wie Farbe. Wir überpinseln damit die Wahrheit und machen aus dem Hässlichen etwas Erhabenes, machen aus dem Schlammloch eines Schützengrabens ein Feld der Ehre und aus dem grauenhaften Sterben einen patriotischen Akt. Nur so lässt sich das ertragen.
Er ging weiter. Marmorne Engel schmiegten sich an Steine. Eine Krähe kam aus einer Eiche herabgesegelt und landete auf dem Weg. Mit schiefgelegtem Kopf beobachtete sie ihn aus einigen Metern Entfernung.
Flieg, Vogel, schnarr dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! – Versteck, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Dieses Gedicht von Nietzsche mochte Agnes besonders. Kein Wunder, dass sie sich so schwer tat, ins Leben zurückzufinden. Sie verschanzte sich hinter ihrem Schmerz. Dühnfort schob die Hände in die Manteltaschen. Vielleicht war er das: ein Narr. Als er sich dem Vogel näherte, flog er auf. Am Ausgang zum Stephansplatz verließ Dühnfort den Friedhof.
Als er das Präsidium erreichte, fühlte er sich dem Tag gewachsen. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Papiere. Er überflog sie und blieb an einer Anrufnotiz haften, die eine der Bürofeen aufgenommen hatte. Eine Kollegin der Polizeidirektion Ost bat um Rückruf. Es ging um Sabine Groß. Während der Computer hochfuhr, wählteDühnfort die angegebene Nummer der Polizeihauptmeisterin Verena Böltsch. Nach dem zweiten Läuten meldete sich eine dunkle und robuste Stimme. Unwillkürlich sah Dühnfort eine kräftige Frau mit klarem Gesicht vor sich. »Ich habe gehört, Sie hatten eine unschöne Begegnung mit Sabine Groß.«
Polizisten sind die reinsten Waschweiber, dachte er. »Sie kennen sie?«
»Sie wohnt in unserem Revier. In dem Haus gibt es öfters Probleme. Zu wenig Arbeit, zu viel Frust, zu wenig Toleranz und zu viel Alkohol. Schlägereien, prügelnde Ehemänner, Kids, die keine Grenzen kennen. Das Übliche. Einmal war Sabine Groß Zeugin, aber ich kannte sie schon vorher. Ich hab mir die Akte rausgesucht. Acht Jahre ist das her, da ist sie schon mal mit einem Messer auf einen Mann losgegangen. Der hat das allerdings bestritten. Sehr obskure Geschichte. Aber ich war mir sicher, dass er lügt und die Geschichte auf kleiner Flamme kochen wollte.«
»Was ist genau passiert? Wer hat sie angezeigt, wenn nicht der Mann, auf den sie losgegangen ist?«
»Der Hinweis kam aus der Notaufnahme des Neuperlacher Krankenhauses. Eine Ärztin hatte dort in der Nacht zuvor einen Mann mit einer Schnittwunde am rechten Unterarm verarztet. Typische Abwehrverletzung, wenn Sie mich fragen. Im Krankenhaus hat er angegeben, seine Angestellte sei durchgedreht. Er ist Optiker und hat ein Geschäft in Altperlach. Als wir ihn befragen wollten, hat er das Ganze als Missverständnis dargestellt. Die Ärztin habe ihn falsch verstanden. Er habe mit seiner Angestellten ein Glasregal montiert. Dabei sei ein Fachboden aus der Halterung gerutscht, und als er ihn auffangen wollte, sei er zerbrochen.«
»Die Angestellte war Sabine Groß?«
»Genau. Als ich sie aufgesucht habe – sie war an dem Tag krankgeschrieben –, hat sie die gleiche Geschichte erzählt wie ihr Chef. Und jetzt ist diese Frau auf Sie losgegangen.«
»Es ist ja nichts passiert.« Dühnfort notierte Namen und Anschrift des Optikers und dankte der Kollegin für die Information. Als er auflegen wollte, hatte er plötzlich noch eine Frage. »Sie sagten, Sabine Groß sei Zeugin gewesen. Worum ging es da?«
Verena Böltsch seufzte. »Alltagskram. Ein Mann hat seine Frau verprügelt. Die hat um Hilfe geschrien, und Sabine Groß, die in der Wohnung darüber wohnte, ist dazwischengegangen. Da lag der Mann aber schon am Boden. Seine
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