In weißer Stille
schon die ganze Geschichte.« Diana Waller lehnte sich im Sessel zurück.
»Nicht ganz. Der Teil, der mich interessiert, fehlt noch. Was haben Sie gemacht, nachdem Sabine Groß die Tür eingetreten hat?«
»Wir haben die Polizei gerufen. Das heißt, Sabine hat das gemacht.«
»Als die Polizei kam, war Ihr Freund gefesselt.«
Diana Waller grinste. »Stimmt. Er war kurz ohnmächtig, kam aber schon wieder zu sich. Ich hatte Angst, dass er dann völlig austickt. Sein Gürtel lag am Boden. Mit dem hatte er mich geschlagen. Sabine hat ihm damit dieHände zusammengebunden. Warum interessiert Sie das nach so langer Zeit eigentlich?«
Dühnfort zuckte die Schultern. »Parallelen zu einem anderen Fall. Hat sie nur die Hände gefesselt?«
Diana Waller zupfte an ihrer Nasenspitze und legte die Stirn in Falten. »Zuerst hat sie den Gürtel zwischen den Rippen des Heizkörpers durchgezogen – das war so ein altes Ding –, damit Ulf nicht aufstehen konnte. Gott sei Dank war die Polizei da, bevor er richtig zu sich gekommen ist.«
»Frau Waller, das ist jetzt wichtig: Wer hatte die Idee, Ulf zu fesseln?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich verstehe zwar nicht … aber es war Sabines Idee. Wie hat sie gesagt? Manche von diesen Scheißkerlen fahren ja voll darauf ab.«
* * *
Caroline beendete die Eingabe, klappte den Laptop zu und sah auf die Uhr. Geschafft. Die Präsentation war fertig, mit der sie Gilles in zehn Minuten überzeugen würde, den alten Agenturdampfer zu verlassen und auf ein modernes, wendiges Boot zu setzen.
Die Anspannung der letzten Stunden verflog, und mit einem Mal fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Das Quäntchen Energie, das sie am Wochenende im Hotel getankt hatte, war bereits verbraucht. Ein richtiger Urlaub würde ihr guttun. Das ging aber frühestens nach der Vorstandssitzung. Eine Woche musste sie noch durchhalten.
Die anderthalb Tage am See waren schön gewesen. Eine Auszeit. Nachts hatte sie in Marcs Armen gelegen und ihm alles Mögliche erzählt; von sich, von Bertram, von der Familie, von ihren Teenagerträumen, nach Afrika zu gehen, aber auch von ihrer Trauer und ihrer Angst, dem Gefühl, als stürze das Haus, in dem sie wohnte, mit ihr ein. Zuerst Mutter, dann Vater, dann Bertram. »Lach mich nicht aus«, hatte sie gesagt. »Ich weiß, es ist eine Plattitüde. Aber wenn ich sterbe, was bleibt? Ein Schrank voll Klamotten und eine tolle Wohnung.«
»Und im Badezimmer eine halbe Parfümerie.« Marc hatte sich enger an sie geschmiegt. Im Halbdunkel hatte sie seine Augen nicht sehen können, aber das Lächeln geahnt, das diese Worte begleitete. Sie hatte die tröstliche Wärme seines Körpers gefühlt und den waldigen Duft seiner Haut eingesogen. »Es liegt bei dir, was du aus deinem Leben machst«, hatte er gesagt, und sie wusste, was er meinte. Aber ein Treueversprechen und ein goldener Ring am Finger waren keine Garantie dafür, nicht doch einsam zu sein. So wie Mutter. Sie hatte einen Mann und drei Kinder gehabt und dennoch mit niemandem ihr Leben teilen können. Was war aus ihrer großen Liebe zu Peter Brandenbourg geworden? Gestern war Caroline spät heimgekommen und hatte nicht weiter in Mutters Tagebuch gelesen.
Allerdings hatte Marc auf andere Weise mit seiner Bemerkung recht. Die Vorstellung, im eigenen Leben Regie führen zu können, entsprach ihrem Naturell. Niemand war unsterblich, auch die sogenannten Unsterblichen nicht. Von ihnen blieb eine Idee, eine Formel, der Name einer Pflanze, ein Buch, eine Oper, ein Theaterstück. Aber sie selbst wurden zu Staub, wie jeder andere auch. Ihre Ziele waren bis vor einer Woche klar definiert gewesen, warum sollte sie diese plötzlich in Frage stellen? Caroline griff nach dem Laptop. Auch wenn Vater es nicht mehr erlebte, er wäre stolz auf sie, sollte sie Vorstand für Marketing und Vertrieb werden. Also auf in den Kampf.
Gilles erwartete sie in seinem Büro in der obersten Etage. Er trug einen dunkelgrauen Maßanzug, ein weißes Button-down-Hemd und dazu eine eisblaue Seidenkrawatte mit limettenfarbenen Streifen. Seine Wangen waren glatt rasiert, das Haar akkurat geschnitten und sein Händedruck wie immer angenehm kühl. »Ich bin schon gespannt, was du mir so kurz vor der Vorstandssitzung noch verkaufen willst.« Er deutete zum Glastisch vor der Fensterfront, auf dem Saft, Wasser und Kekse bereitstanden.
Hört sich an, als wäre ich eine Hausiererin, die ihm ein Zeitschriftenabo andrehen will, dachte Caroline und
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