In weißer Stille
»Ihre Fragen … das macht doch nur Sinn … Bertram hat sich nicht selbst erschossen, oder?«
Dühnfort bestätigte diese Vermutung. Danach saß sie einen Moment wie versteinert da und starrte an die Wand. Er sah das Räderwerk, das hinter ihren Augen lief, sah, wie Zahn in Zähnchen griff.
»Aber wer tut so etwas und warum? Er hatte keine Feinde. Klar, Streit schon. Hin und wieder … Er muss etwas gewusst haben.« Sie atmete aus und stellte den Becher ab. »Bertram war am Mittwoch bei mir. Er hat irgendwas von einem Auftrag gefaselt, was ganz Großes. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht genau aufgepasst. Solche Geschichten hat er schon früher erzählt, und immer war es heiße Luft. Aber dieses Mal war er irgendwie anders. Er hat gelacht … und wie hat er gleich gesagt? …
Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.
Dabei hat er sein Handy in die Luft geworfen und wieder aufgefangen … da hat er es also noch gehabt.«
Das Handy. Es verfügte über eine Foto- und Videofunktion. War es deshalb verschwunden? Hatte Bertram damit Aufnahmen gemacht, mit denen er jemanden erpresste?
Dühnfort verabschiedete sich, fuhr ins Präsidium und suchte Meo auf. Der saß in einem halbdunklen Raum hinter einer Reihe von Monitoren. Nur das Geräusch der Lüfter und das Klappern der Tastatur waren zu hören. Im Schein der Bildschirme wirkte Meos Gesicht bleich, als sei ihm übel. Er drehte sich um, als er Dühnfort bemerkte, und bot ihm einen der Energieriegel an, ohne die er anscheinend nicht lebensfähig war.
Dühnfort lehnte dankend ab und fragte, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, Bertrams Handy zu orten.
»Nur wenn es eingeschaltet ist.«
Dühnfort hatte es mehrfach versucht und jedes Mal die Bandansage zu hören bekommen, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.
Meo schob ihm die Liste mit den Verbindungsdaten über den Tisch. Dühnfort studierte die Aufstellung. Bis auf den Anruf von Sabine Groß vor drei Wochen fielenihm keine Besonderheiten auf. Siebenundvierzig Sekunden. Was konnte man in so kurzer Zeit besprechen? Hatten die beiden ein Treffen vereinbart, weil häufige Telefonate vielleicht zu riskant waren?
Eines war jedenfalls seit heute Mittag klar. Sabine Groß hatte entweder damals mitbekommen, dass Heckeroth sie mit einem Gürtel gefesselt hatte, oder sie kannte das Foto doch.
Manche von diesen Scheißkerlen fahren ja voll darauf ab.
Diese Bemerkung von ihr wäre sonst Zufall. Und Dühnfort glaubte nicht an Zufälle.
D IENSTAG , 21 . O KTOBER
Gegen vier erwachte Dühnfort aus unruhigem Schlaf. Er lag im Dunkeln und ließ zu, dass seine Gedanken das Gewicht des Sechzehntonnensteins aus Monty Python’s
Flying Circus
annahmen. Kurz nach halb fünf wälzte er sich aus dem Bett und ging unter die Dusche. Die Gedanken wurden klarer, die Laune aber nicht besser. Etwas beunruhigte ihn, hinderte ihn daran zu frühstücken und trieb ihn aus dem Haus.
Es war dunkel und still. In der Lichtinsel der Straßenlaterne fing sich sein Atem; frostkalt umschlang ihn die Nacht. Seine Schritte hallten auf dem Pflaster nach. An der Müllerstraße tauchten die ersten Scheinwerfer auf und dann ein Auto, das aus der langgezogenen Kurve kommend Richtung Sendlinger Tor fuhr. Er ging weiter über den Oberanger zur Blumenstraße und erreichte den Viktualienmarkt.
Lieferfahrzeuge parkten am Straßenrand und in den Gassen zwischen den Verkaufsbuden. Stimmen hallten über den Platz. Im Licht der Laternen beluden Händler und Fahrer Sackkarren mit Obst- und Gemüsekisten, platzierten Eimer, gefüllt mit Dahlien, Astern und Chrysanthemen auf Stellagen, wuchteten Kartons voller Schinken, Schwarzgeräuchertem, Presssack und Sülze auf Gehwege.
Dühnfort erreichte die
Schmalznudel,
schob die dunkle Holztür auf und trat in den Gastraum. Wie immer um diese Zeit herrschte drangvolle Enge. Standlbesitzer und Marktfrauen tranken eilig ihr Haferl Kaffee; Nachtschwärmer ließen die Nacht bei einem Piccolo und der obligatorischen
Auszog’nen
ausklingen. In der Luft hing der Geruch von heißem Butterschmalz, Kaffee und frischen Brezen, vermischt mit dem Dunst von Schweiß und den Nuancen teurer Parfums, die sich im Gleichklang mit der schwindenden Nacht verflüchtigten. An einem Tisch mit Blick auf den Markt war noch ein Platz frei. Dühnfort setzte sich zu einem ergrauten Paar in Abendkleid und Abendanzug, das sich über eine Othello-Aufführung unterhielt, und bestellte ein Haferl Kaffee. Ihr Make-up war verblasst,
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