In weißer Stille
auf. Als er das Wohnzimmer verlassen wollte, fiel sein Blick auf eine gerahmte Fotografie, die neben einem Kerzenleuchter aus Kristall auf einem der Tischchen stand. Merde, schoss es ihm durch den Kopf, während Informationen an neue Plätze rückten und so einer weiteren Möglichkeit Gestalt gaben. Dühnfort starrte auf das Bild. Eine mollige junge Frau mit verträumten Augen und dunklem Haar. »Ist das Ihre Tochter?«
Loretta Kiendel nickte, griff nach dem Bild und betrachtete es versonnen.
»Wie alt ist sie, und wann ist der Unfall passiert?«
»Siebzehn, bald achtzehn.« Frau Kiendel löste den Blick vom Foto und sah Dühnfort an. »Es war am Montag gegen Mitternacht. Dabei hatte ich ihr doch verboten, so lange auszubleiben.«
Kind, hat sie gesagt, dachte Dühnfort. Das Kind hatte den Helm nicht auf. Das ist eine junge Frau. »Welcher Montag? Doch nicht der 6 . Oktober?«
Frau Kiendel musterte ihn besorgt. »Doch. Warum interessiert Sie das plötzlich?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Können Sie mir den Schlüssel wieder geben? Ich muss doch noch mal in die Wohnung.«
Heckeroths Putzfrau holte ihn vom Bord. Dühnfort verabschiedete sich und stieg wieder hinunter in die Wohnung.
Im Arbeitszimmer sah er sich um. Sein Blick fiel auf den PC, den er am vergangenen Mittwoch gestartet hatte. Natürlich. Deshalb war er mit einem Passwort geschützt. Aber bisher hatte Dühnfort nirgends eine Digitalkamera gesehen. Er nahm den Rechnungsordner aus dem Regal und blätterte, bis er die Quittung fand. Vor beinahe zwei Jahren hatte Heckeroth sich eine Digicam gekauft. Systematisch durchsuchte er das Arbeitszimmer, fand aber nur den Speicherchip für die Kamera in einer Schublade. Dann rief er Meo an und bat ihn, zu kommen und einen Transportkarton für den Computer mitzubringen.
Am Fenster stehend, starrte er hinunter auf den Platz. Natürlich wäre Heckeroth nicht das Risiko eingegangen, dass seine Putzfrau Fotos ihrer Tochter bei ihm fand. Er konnte sie also nicht in das Album kleben oder in einer Schublade verstecken. Wirklich sicher vor ungewollten Blicken waren sie nur in einem passwortgeschützten PC.
Dühnfort wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Es war nur ein Gefühl, eine Ahnung, die ihn bei Betrachtung des Bildes erfasst hatte. Franziska Kiendel entsprach Heckeroths Frauentyp. Dühnfort konnte sich nicht vorstellen, dass ein junges Mädchen sich in einen Zweiundsiebzigjährigen verliebte. Die Macht der Worte oder die Macht des Geldes? Oder hatte er womöglich zum selben Mittel gegriffen wie bei Sabine Groß? Aber noch war das eine Vermutung. Er wollte Gewissheit. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, dann hatte Franziska Kiendel möglicherweise ein Motiv.
Das Klingeln an der Wohnungstür riss ihn aus seinen Gedanken. Er ließ Meo ein, der einen Transportkarton in den Flur stellte. Die langen Haare quollen unter dem schwarzen Basecap hervor, das er mit dem Schild nach hinten trug. Sweatshirt und Jeans waren wie immer drei Nummern zu groß. »Und wo ist das Schätzchen?«
Dühnfort ging voran ins Arbeitszimmer. »Der Rechner ist passwortgeschützt. Kannst du ihn knacken?«
Meo zuckte die Schultern. »Dürfte nicht allzu schwierig werden. Ist das alles?«
»Nein. Vermutlich sind darauf Fotos abgespeichert, die denen an unserer Pinnwand ähnlich sind. Und sieh dir auch die Flashcard an.« Er reichte Meo den Speicherchip.
»Okay.« Meo steckte die Karte in die Hosentasche, packte den Rechner in die Kiste und ging.
Dühnfort stellte sich wieder ans Fenster und versuchte, das lose Ende eines Gedankens zu fassen zu bekommen.
Von Anfang an hatte bei dieser Ermittlung die unglaubliche Grausamkeit der Tat im Mittelpunkt gestanden. Wer war fähig, über Tage hinweg mit dem Wissen zuleben, dass ein Mensch langsam und qualvoll starb, ohne zur Besinnung zu kommen, die Tat abzubrechen, dem ein Ende zu machen? Was aber, wenn der Täter dazu nicht in der Lage war? Vielleicht war Heckeroths Tod nie beabsichtigt gewesen, sondern das tragische Ergebnis eines Verkehrsunfalls. Ein unachtsamer Moment eines Führerscheinneulings hatte möglicherweise nicht nur Franziska die Gesundheit gekostet, sondern Wolfram Eberhard Heckeroth das Leben.
* * *
Babs nahm die Post aus dem Briefkasten und ging nach oben. Sie kam von einem Mittagessen mit Carsten. Gegen zehn hatte Veronika Jäger angerufen und gefragt, ob Babs rüberkommen könnte, um die Detailplanung für die
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