In weißer Stille
Albert und erfuhr, dass der
Herr Doktor
auf einer Fortbildung war.
Dühnfort dankte für die Auskunft und holte sich bei Frau Kiendel den Schlüssel. Zwei Minuten später war er in der Wohnung. Auf dem Esstisch stand ein alter Filmprojektor, einige beschriftete Filmrollen lagen daneben.
Sommer 1967 auf der Alm, Picknick an der Isar, Alberts erster Skikurs, Oktoberfest 1971 , Kreta
1972 . Auf der Anrichte stapelten sich Fotoalben. Hatte Albert hier in der Vergangenheit geschwelgt?
Dühnfort durchsuchte die Wohnung, ohne zu wissen, was er zu finden erwartete. Im Schlafzimmer räumte er die Wäsche aus der Kommode, in der er das Album gefunden hatte, dann nahm er sich den Kleiderschrank und das Nachtkästchen vor. Die Polaroidkamera lag in der Schublade. Im Arbeitszimmer studierte er die Rücken der Ordner im Regal, zog den mit der Aufschrift
Rechnungen
hervor und blätterte ihn flüchtig durch. Quittungen für alles Mögliche waren fein säuberlich auf weiße Blätter geklebt und in Klarsichthüllen abgeheftet.
Er schob den Ordner zurück und stellte sich ans Fenster. Eine Straßenbahn hielt unten am Platz. Was hatte Bertram gewusst? Wo war das Bindeglied zum Mord an seinem Vater und zu der zwanzig Jahre zurückliegenden Vergewaltigung von Sabine Groß? Oder hielt er die losen Enden von Fäden in der Hand, die niemals miteinander verbunden gewesen waren?
Eine halbe Stunde später trug er den Schlüssel wieder nach oben zu Frau Kiendel und fragte, ob er ihr einige Fragen stellen könne.
»Sicher.« Sie bat ihn in das Wohnzimmer, einen kleinen Raum mit schrägen Wänden und einem Gaubenfenster. Üppig. Das war das Wort, das Dühnfort durchden Kopf schoss, als er diese überbordende Pracht sah: wallende Gardinen und dicke Vorhänge, deren Stofffülle von Quasten zur Seite gerafft wurde; Tischchen mit Deckchen, ein sprungbereiter Gepard aus Messing auf der Anrichte, Giraffen aus Holz als Buchstützen, ein Strauß Seidenblumen, der aus einer goldverzierten Kristallvase quoll.
Frau Kiendel bot ihm Platz auf einem weinroten Plüschsofa an und setzte sich in den Sessel gegenüber. Noch immer lag ein angespannter Zug um ihren Mund, zeigten sich Sorgenfalten auf der Stirn. »Wie geht es Ihrer Tochter?«, fragte Dühnfort.
Sie ließ die Hände in den Schoß fallen. »Unverändert. Ich besuche sie nachher und lese ihr vor. Vielleicht erkennt sie ja meine Stimme.«
»Ich will Sie auch nicht lange aufhalten. Aber ich möchte mir ein Bild von der Familie Heckeroth machen. Sie haben sie ja gut gekannt. Verstanden Albert und sein Vater sich wirklich so gut, oder gab es doch manchmal Streit?«
»Zwischen den beiden? Nie. Herr Heckeroth war sehr stolz auf Albert. Das findet man ja selten, dass der Sohn sich den Vater zum Vorbild nimmt. Das Einzige, was mich manchmal gewundert hat, war, dass sein alter Herr immer an erster Stelle stand. Also eigentlich sollten Frau und Kinder vorgehen, meine ich. Aber sein Vater musste bloß rufen, und schon sprang Albert. Streit gab es nur mit Bertram. Nicht, dass Herr Heckeroth mir das gesagt hätte, er war sehr darauf bedacht, was die Leute redeten, aber trotzdem habe ich so einiges mitbekommen. Und mit Elli, also Frau Heckeroth, habe ich mich gut verstanden, die hat manchmal aus dem Nähkästchen geplaudert. Bertram war das Sorgenkind. Der ständige Ärger mit ihmhat sicher auch dazu beigetragen, dass sich der Krebs bei Elli so schlimm entwickelt hat. Sie war ja oft wochenlang im Krankenhaus und auf Reha. Und nun hat Bertram sich erschossen. Das kann ich gar nicht glauben. Ich hätte eigentlich gedacht, dass er dafür zu feige ist.«
Die Neuigkeit über Bertrams Todesumstände war also noch nicht bis zu ihr vorgedrungen.
Sie unterbrach ihren Redefluss und blickte auf die Uhr. »Ehrlich gesagt hat es mich gewundert, dass er vorletzten Montag angerufen hat, weil er sich Sorgen um seinen Vater machte.«
»Bertram hat Sie an dem Montag angerufen, an dem Herr Heckeroth tot aufgefunden wurde?«
Die Locken wippten, als sie nickte. »Am Nachmittag. Er konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Deshalb hat er mich gefragt. Mit Albert und Caroline war er ja über Kreuz. Er dachte, es sei etwas passiert und sein Vater vielleicht im Krankenhaus. Da sind Sie nicht der Einzige, der sich sorgt, habe ich gesagt. Ich hatte ja schon in der Früh deswegen Albert angesprochen. Aber der hatte natürlich in der Praxis zu tun.«
Dühnfort hörte den leichten Tadel in ihrer Stimme. Er dankte Frau Kiendel und stand
Weitere Kostenlose Bücher