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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Kopf, ein Gerücht, ein Schubs von einem Nachbarn.« Sie saugte nachdenklich an einem Backenzahn. »Tja, so wird's wohl gewesen sein.«
    Der Viehtransporter legte vom Kai ab, offenbar hoffte die Besatzung, dem Aufruhr an Land so entgehen zu können. Menschen sprangen ihm verzweifelt nach, fielen entweder ins Wasser oder wurden hineingestoßen. Die Ordnungskräfte formierten sich weiter flußabwärts hinter einer Ansammlung von Gebäuden. Von hier aus wirkte alles stark verlangsamt und behäbig und ließ sich leicht beobachten. Nach einer Weile straffte sich Chu. »Die Pflicht ruft. Sie müssen sich schon ohne meine Hilfe umbringen. Ich glaube, ich muß dort mal nach dem Rechten sehen.« Unvermittelt streckte sie die Hand aus. »Noch böse?«
    Der Bürokrat zögerte. Irgendwie hatte sich die Stimmung jedoch verändert. Die Spannung zwischen ihnen hatte sich abgebaut, der Ärger verflüchtigt. Er nahm das Röhrchen in die Linke. Sie schüttelten sich die Hände.
    Weit unten erhob sich ein Gebrüll, als vor dem Mob orangefarben qualmende Verhaltensdämpfer explodierten. Die Vorstellung, dort runterzugehen, erschreckte den Bürokraten. Trotzdem zwang er sich zu sagen: »Brauchen Sie Hilfe? Ich habe nicht viel Zeit, aber ...«
    »Haben Sie jemals ein Aufruhrtraining absolviert?«
    »Nein.«
    »Dann können Sie nichts ausrichten.« Chu holte einen Zigarillo aus der Tasche und machte sich auf den Weg. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um.
    »Ich werde eine Kerze zu Ihrem Gedenken anzünden.« Sie zögerte, als fiele es ihr schwer, diesen letzten Kontakt abzubrechen.
    Der Bürokrat hätte gern eine versöhnliche Geste gemacht. Jemand anders wäre Chu vielleicht nachgelaufen und hätte sie umarmt. »Grüßen Sie Ihren Mann von mir«, meinte er schroff. »Sagen Sie ihm, Sie wären in der Zwischenzeit ein braves Mädchen gewesen.«
    »Sie Mistkerl.« Chu lächelte, spuckte aus und ging davon.

    Wieder in der Luft und unterwegs nach Süden, sagte die Aktentasche: »Brauchen Sie den Stift noch?«
    Der Bürokrat schaute benommen auf den Metallzylinder hinunter, den er immer noch in der Hand hielt. Er zuckte die Achseln und reichte ihn der Aktentasche. Dann kuschelte er sich in den Liegesessel. Die Schultern taten ihm weh, vor Anspannung und Erschöpfung brummte ihm der Schädel. »Sag mir Bescheid, wenn wir die Stadt erreicht haben.«
    Sie flogen über verlassene Felder dahin, über menschenleere Siedlungen und Straßen, auf denen sich kein Verkehr bewegte. Die Evakuierungsbehörde hatte das Land durchkämmt und Straßensperren, aufgegebene Lastwagen und helle Farbkleckse auf Straßen und Dächern zurückgelassen, riesige, unleserliche Zeichen. Dann begann wieder die Marsch, die Spuren von Besiedlung wurden weniger, dünnten aus und verschwanden.

    »Chef? Ich habe ein Gesprächsersuchen für Sie vorliegen.«
    Der Bürokrat hatte gedöst; ein reizbarer Halbschlaf mit Träumen, die Gott sei Dank niemals ganz deutlich wurden. Nun erwachte er mit einem Grunzen. »Du hast was?«
    »Im Flieger befindet sich ein fremdes Programm - irgendein quasi-autonomes Konstrukt. Nicht gerade ein Stellvertreter, aber mit größerer Unabhängigkeit ausgestattet als die meisten Interaktive. Es möchte mit Ihnen sprechen.«
    »Schalt's ein.«
    In boshaft-munterem Ton sagte der Flieger: »Guten Morgen, Sie Schweinehund. Ich hoffe, ich störe nicht?«
    Als er die Stimme des falschen Chu erkannte, sträubten sich dem Bürokraten die Nackenhaare. »Veilleur! Sie sind tot.«
    »Ja, und das Komische daran ist, daß ich wegen einer Null wie Ihnen gestorben bin. Wegen eines Mannes, der sich die Fülle des Lebens, das ich verloren habe, nicht einmal vorstellen konnte, bloß weil Sie die Unverfrorenheit hatten, sich einem Hexer in den Weg zu stellen!«
    Wolken trieben über den Himmel, dunkel und scharf konturiert. »Ebensogut könnten Sie Gregorian vorwerfen, er ...« Der Bürokrat faßte sich. Es war sinnlos, mit dem aufgezeichneten Persönlichkeitsfragment eines Toten streiten zu wollen.
    »Ebensogut könnte man das Meer dafür hassen, daß man darin ertrinkt! Ein Hexer ist kein Mensch - seine Empfindungen und seine Motive sind unermeßlich, unpersönlich und jenseits Ihrer Vorstellungskraft.«
    »Dann hat er also ein Motiv? Dafür, daß Sie hier sind?«
    »Er bat mich, Ihnen eine Geschichte zu erzählen.«
    »Schießen Sie los.«
    »Es war einmal ...«
    »O Gott!«
    »Ich verstehe. Sie möchten die Geschichte lieber selbst erzählen?« Als der

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