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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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tätowierte ihn eigenhändig. Ich fürchte, ich habe ihm mehr überlassen, als ich hätte sollen.
    Hexen sind immer beschäftigt - das ist bei ihnen so eine Angewohnheit. Ich war eine Zeitlang weg und erfuhr erst bei meiner Rückkehr, welche Unannehmlichkeiten ich dir verursacht hatte.« Sie blickte ihn mit ihren verwirrend ruhigen Augen unverwandt an. »Das ist die Wahrheit. Verzeihst du mir?«
    Er hielt sie lange Zeit umschlungen, dann traten sie wieder ins Zimmer.
    Später standen sie wieder auf dem Balkon, und zwar angekleidet, denn die Luft hatte sich abgekühlt.

    »Du kennst die dunklen Sternbilder«, meinte Undine, »und die hellen. Kannst du sie aber auch alle zu dem Einen zusammensetzen?«
    »Zu dem Einen?«
    »Sämtliche Sterne bilden ein einziges Bild. Warte, ich zeig's dir. Fang irgendwo an, zum Beispiel mit dem Widder. Zeichne ihn mit den Fingern nach und spring dann zum nächsten Bild, beide sind ein Teil der größeren Struktur. Du folgst dem nächsten und gelangst zum ...«
    »Zum Kosmonaut! Ja, ich sehe ihn.«
    »Und während du all das im Kopf behältst, beziehst du auch die dunklen Sternbilder ein, wie sie ineinander übergehen und ein zweites, kontinuierliches Muster bilden. Bist du soweit? Folge meinem Finger, die Kurve hoch, wieder runter und dort rüber. Siehst du? Die Ringe und Monde beachtest du nicht, die sind nebensächlich. Folge meinem Finger, und jetzt hast du schon den halben Himmel.
    Du hast die meiste Zeit deines Lebens im Weltraum verbracht, dann kennst du wohl beide Hemisphären, die nördliche wie die südliche, nehme ich an? Vergegenwärtige sie dir beide, die Himmelshalbkugel, die du gerade siehst, und die unter dir, an die du dich erinnerst, und beide zusammen bilden ...?«
    Auf einmal sah er sie: Zwei ineinander verschlungene Schlangen, die eine hell, die andere dunkel. Ihre gewundenen Leiber bildeten eine komplizierte Kugel. Über ihm hielt die helle Schlange den Schwanz der dunklen im Maul. Unmittelbar unter ihm hielt die dunkle Schlange das Ende der hellen Schlange im Maul. Das Licht verschlang die Dunkelheit, die das Licht verschlang. Das Muster war vorhanden. Es war real und setzte sich endlos fort.
    Er war erschüttert. Er hatte sein ganzes Leben innerhalb der Einen Konstellation verbracht, hatte sie tausendmal aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und doch nicht gekannt. Wenn etwas derart Offensichtliches, Allumfassendes vor ihm verborgen gewesen war, was mochte ihm dann sonst noch entgangen sein?
    »Schlangen!« flüsterte er. »Der ganze Himmel ist voller Schlangen!«
    Undine umarmte ihn spontan. »Das hast du gut gemacht! Ich wünschte, ich hätte dich schon in deiner Jugend kennengelernt. Ich hätte einen Hexer aus dir machen können.«
    »Undine«, sagte er. »Wo gehst du jetzt hin?«
    Einen Moment lang war sie sehr still. »Am Morgen breche ich zum Archipel auf. Um diese Zeit des Großjahrs erwacht es zum Leben. Den Großsommer über ist das ein verschlafener, idyllischer Ort, an dem nichts passiert, aber jetzt ... Es ist, als würde Luft in einem Kolben zusammengepreßt und alles erwärmte sich. Die Leute ziehen auf die Berghänge, wo die Paläste sind, und sie bauen bunte provisorische Lauben. Es würde dir gefallen. Gute Musik, auf den Straßen wird getanzt. Man trinkt Inselwein und schläft bis zum Mittag.«
    Der Bürokrat versuchte es sich vorzustellen, schaffte es aber nicht, obwohl er sich bemühte. »Das klingt wunderbar«, sagte er mit einem sehnsuchtsvollen Unterton.
    »Begleite mich«, sagte Undine. »Laß deine schwebenden Welten zurück. Ich werde dich Dinge lehren, von denen du nie geträumt hast. Hattest du jemals einen Orgasmus, der drei Tage lang anhielt? Ich kann's dir beibringen. Hast du jemals mit Gott gesprochen? Sie schuldet mir einen Gefallen.«
    »Und Gregorian?«
    »Vergiß Gregorian.« Sie schlang die Arme um ihn, drückte ihn an sich. »Ich werde dir die Mitternachtssonne zeigen.«
    Obwohl der Bürokrat gern mit ihr gegangen wäre und sich zu Undines weitentfernter Bilderbuchinsel hätte entführen lassen, war doch etwas Hartes und Kaltes in ihm, das sich nicht vom Fleck rührte. Er vermochte von Gregorian nicht abzulassen. Das war seine Pflicht, seine Verpflichtung. »Ich kann nicht«, sagte er. »Das bin ich der Allgemeinheit schuldig. Erst muß ich die Sache mit Gregorian abschließen.«
    »Ach? Na gut.« Undine schlüpfte in ihre Schuhe. Sie schlossen sich um ihre Waden und Fesseln; gute Importware. »Dann muß ich jetzt wirklich

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