INAGI - Kristalladern
und sie am Abend etwas früher verließ. Sie würde das nicht noch einen weiteren Tag durchstehen.
Sobald sie ihre Entscheidung gefällt hatte, fühlte sie sich besser. Als sie das nächste Mal ihren Tragekorb zu den Loren brachte, blieb sie an einer Stelle, an der sie unbeobachtet war, stehen und setzte den Korb auf dem Boden ab. Sie suchte zwischen den Kristallen herum, bis sie einen Splitter fand, der nicht größer war als die Innenfläche ihrer Hand. Damit konnte sie sich in der Dunkelheit ihren Weg suchen. Um ihn vor ihrem Begleiter und dem Anreshir zu verbergen, wickelte sie den Kristall fest in das Stück Stoff, das sie heute Morgen für alle Fälle in ihren Ausschnitt gesteckt hatte, und hob den Korb wieder auf ihre Schultern. Jetzt musste sie nur noch warten, bis die Nacht kam.
Einige Stunden später lief sie ungeduldig in ihrem Zimmer auf und ab, setzte sich zwischendurch aufs Bett, stand wieder auf, um ihre Wanderung fortzusetzen, setzte sich wieder, nur um im nächsten Moment erneut aufzuspringen und ans Fenster zu treten. Sie war einfach zu unruhig, um länger als zehn Herzschläge lang stillzusitzen. Sie spähte durch die Scheiben, bis sie von ihrem Atem beschlugen. Obwohl es schon spät war, brannte in den umliegenden Häusern noch Licht und in den Gassen waren nach wie vor Kireshi unterwegs. Wenigstens wurde der Mond von dichten Wolken verhüllt. Je dunkler die Nacht war, desto leichter würde es sein, unentdeckt zu bleiben. Als Ishira sich umdrehte, fiel ihr Blick auf das Tablett mit dem Essen, das unangerührt auf dem Tisch stand. Sicherlich wäre es vernünftig gewesen, vor ihrem Aufbruch wenigstens ein paar Bissen von dem Fleischeintopf zu essen, aber ihr Magen hatte sich vor Aufregung so eng zusammengezogen, dass sie sicher war, dass nicht einmal ein Asagikorn hineingepasst hätte.
Nach und nach verstummten die Geräusche des Lagerlebens. Endlich schienen auch die trinkfreudigsten Kireshi aus den Gasthöfen in ihre Quartiere zurückgekehrt zu sein. In den Häusern wurden die letzten Lichter gelöscht. Die Zeit war gekommen.
Sorgfältig verstaute Ishira die gestickte Landkarte in ihrem Ausschnitt. Schade nur, dass sie die beiden Hemden für Kanhiro und Kenjin nicht mitnehmen konnte, die sie unterwegs geschneidert hatte, aber sie wusste beim besten Willen nicht, wo sie sie hätte unterbringen sollen. Sie konnte nicht gut drei Kleidungsstücke übereinander tragen. Stattdessen erwog sie, ihren Umhang überzuziehen, verwarf jedoch auch diesen Gedanken. Der Stoff würde sie beim Klettern behindern. Dass Gesicht und Arme das Licht der Laternen auffangen könnten, musste sie eben in Kauf nehmen. Als letztes flocht sie ihre Haare zum Zopf, damit sie sich nicht irgendwo verfangen konnten.
Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Flur. Alles war still. Auch Kiresh Yaren schlief sicher längst – und wenn nicht, hatte er keinen Grund, mitten in der Nacht an ihre Tür zu klopfen. Leise huschte sie die Treppe hinunter und linste um die Ecke in die Gaststube. Sie war leer und dunkel. Ishira schlüpfte nach draußen. Auch auf der Straße war niemand zu sehen. So schnell und leise sie konnte, eilte sie hinüber zu den Lagerhäusern.
Aus der Gasse rechts vor ihr erklangen Stimmen. Zum Glück ließen auch die Gohari Lücken zwischen ihren Häusern, um die Gefahr zu verringern, dass bei einem Angriff der Amanori Feuer von einem Gebäude auf die benachbarten übersprang. Rasch verbarg Ishira sich in der Dunkelheit zwischen den nächstgelegenen Häusern und versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen. Zwei junge Kireshi kamen in Sicht. Sie torkelten beim Gehen leicht und schenkten ihrer Umgebung keine große Aufmerksamkeit. Einer lachte laut über einen Witz, den der andere offenbar gerade gemacht hatte, dann kicherten beide albern. Einige Herzschläge später waren sie vorüber. Ishira holte erleichtert Luft. Sie verließ ihre Deckung und rannte zum ersten Lagerhaus hinüber. Wie sie gehofft hatte, ließ sich die Tür mühelos öffnen. Drinnen holte Ishira aus ihrem Ausschnitt den Kristallsplitter hervor, den sie am Nachmittag in der Mine hatte mitgehen lassen. Er spendete in etwa so viel Licht wie eine Kerze. Sie hielt ihn auf Armeslänge vor sich und sah sich um. Wieder hatte sie Glück: An der Wand zu ihrer Linken hingen ein paar Seile in verschiedenen Längen und Stärken. Ishira entschied sich für zwei längere Stricke, die ungefähr so dick waren wie zwei ihrer Finger. Aufgerollt waren sie schwerer als
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