INAGI - Kristalladern
stehen. Vor ihr waren schemenhaft die Palisaden des Dorfes zu erkennen. Sie lauschte in die Stille und wartete. Überall um sie her raschelte es im Unterholz und beklommen fragte sie sich, welche Tiere wohl nachts auf Beutezug gehen mochten. Etwas streifte ihr nacktes Bein. Sie presste eine Hand auf den Mund, um ihren erschrockenen Aufschrei zu ersticken. Mit der anderen Hand fuhr sie angewidert über ihre Wade, doch da war nichts. Wahrscheinlich nur eine Spinnwebe oder ein Grashalm.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen und Ishira glaubte schon, die Wachen würden ihre Runde heute gar nicht drehen, als sie rechts von sich Gemurmel hörte. Einige Herzschläge später wurden die nahen Büsche vom schwankenden Schein einer Bambuslaterne erfasst und unmittelbar darauf tauchten die beiden wachhabenden Kireshi auf, von denen einer die Lichtquelle in der Hand hielt. Ishira wagte nicht, auch nur ihren kleinen Finger zu rühren. Mit angehaltenem Atem wartete sie, bis die Männer, die sich leise miteinander unterhielten, an ihrem Versteck vorbeigegangen waren und auf der anderen Seite der Siedlung wieder in der Nacht verschwanden. Jetzt! dachte sie und lief zu den Palisaden vor. Sie wickelte sich das zweite Seil vom Körper und knüpfte ebenfalls eine Schlinge ans Ende.
Diesmal brauchte sie ganze sechs Versuche und war der Verzweiflung nahe, bis das Seil endlich an einem der Pfähle hängen blieb. Das Klatschen der Fehlwürfe klang in ihren Ohren wie Peitschenhiebe und sie rechnete jeden Moment damit, dass ihr einer der Wächter die Klinge seines Kesh an die Kehle halten würde. Doch alles blieb ruhig. Vorsichtshalber band Ishira diesmal ihren Rock am Gürtel fest, bevor sie sich am Seil hochzog. Sie wollte nicht noch einmal hängenbleiben.
Ohne Schutz konnte sie sich nicht so elegant über die Palisaden rollen wie im Fort, sondern musste halb hinüber klettern, doch hier gab es keine Wachtürme und sie brauchte sich nicht darum zu sorgen, dass jemand sie sehen könnte. Schmerzhaft bohrten sich die spitzen Pfähle in Brust und Unterarme. Als Ishira ihr rechtes Bein hinüberschwang, schrammte sie mit ihrem verletzten Knie über einen der Pfähle. Sie zuckte zusammen und hätte um ein Haar den Halt verloren. Im letzten Moment fing sie sich und hob auch ihr anderes Bein hinüber. Vorsichtig löste sie ihre linke Hand, um das Seil einzuholen, doch es verhakte sich irgendwo und ließ sich nicht weiter nach oben ziehen, egal wie sehr sie es hin und her schüttelte. Entnervt gab Ishira auf, ließ sich an den Armen hängen und sprang. Um ihre Rückkehr konnte sie sich später Gedanken machen.
Als sie auf dem sandigen Boden des Dorfes landete, zuckte Schmerz durch ihre Beine. Der Aufprall war härter gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Ihr rechtes Knie pochte dumpf. Etwas Warmes lief über ihre Wade. Blut. Der Kratzer auf ihrer linken Wange brannte wie Feuer. Vermutlich war ihr gesamter Körper voller Schrammen und blauer Flecke.
Nach einem kurzen Blick in die Runde stellte sie fest, dass sie sich dicht beim Haus von Ozamis Familie befand. Kanhiros Haus lag am Ende der Gasse, nur etwa drei Dutzend Schritte entfernt. Atemlos huschte Ishira durch die Stille. Nirgends war ein Laut zu hören oder auch nur der kleinste Lichtschein zu sehen. Trotzdem sah sie sich noch einmal sichernd nach allen Seiten um, bevor sie langsam die Haustür aufklinkte und gerade so weit öffnete, dass sie durch den Spalt passte. Im schwachen Schein ihres Kristallsplitters stieg sie die Treppe hinauf. Eine der Dielen knarrte leise, als sie mit dem Fuß darauf trat. Wenn sie sich richtig erinnerte, schlief ihr Freund in der vorderen Kammer. Sie hatte schon die Hand erhoben um anzuklopfen, als sie sie aus einem Impuls heraus wieder sinken ließ und die angelehnte Tür einfach aufzog.
In der Kammer war es kühl. Kanhiro hatte sich auf der Seite zusammengerollt. Die dicken glatten Strähnen seines Haars hoben sich dunkel von seinen nackten Schultern ab. Jetzt, wo es offen war, fiel ihr auf, dass es in den letzten Monden bestimmt um zwei oder drei Fingerbreit gewachsen war. Lautlos kniete Ishira sich neben ihren Freund auf den Boden und betrachtete sein friedliches Gesicht. Jeder seiner Züge war ihr vertraut: Die weichen Konturen, die gerade eben den Mann verrieten, aber auch noch etwas Knabenhaftes an sich hatten. Die langen dunklen Wimpern. Die leicht gebogene Nase. Die geschwungenen Lippen und die kleine Narbe am Kinn. In seiner rechten Wange saß ein
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