INAGI - Kristalladern
gedacht, aber zumindest das eine Seil musste sie ja nur eine kurze Strecke weit tragen.
Sie verließ das Lagerhaus und lief zur Rückseite des Gebäudes. Zwischen Schuppen und Palisaden war sie vom Fort aus nicht zu sehen und der Wachturm rechts von ihr war zu weit entfernt, als dass die Kireshi dort oben sie hätten sehen können. Außerdem war es an dieser Stelle so dunkel, dass auch die Wächter auf dem zweiten Turm sie kaum entdecken dürften. Ishira legte eines der beiden Seile auf dem Boden ab, um die Hände frei zu haben, und wickelte sich das andere um die Taille. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich nicht unbeabsichtigt lösen konnte, hob sie das erste Seil wieder auf und knüpfte eine Schlinge ans eine Ende. Während sie versuchte, die Höhe der Umfriedung einzuschätzen, sah sie sich und Kenjin wieder ihrer beider Geschicklichkeit beim Kushiri messen und bat ihre Ahnen, sie noch einmal so gut zielen zu lassen wie an jenem Tag.
Sie kniff die Augen zusammen und warf die Schlinge nach oben, doch das Seil flog nicht hoch genug. Mit leisem Klatschen schlug es gegen die Holzpfähle und fiel zurück. Ishira fing es auf und lauschte mit klopfendem Herzen in die Stille, obwohl die Wächter das Geräusch unmöglich hatten hören können. Mit angehaltenem Atem warf sie die Schlinge erneut. Diesmal blieb sie an einem der angespitzten Pfähle hängen. Ishira ließ den Atem langsam durch ihre leicht geöffneten Lippen entweichen und zog das Seil straff. Nach einem letzten Blick auf ihre Umgebung kletterte sie flink nach oben, bis sie direkt unterhalb der Spitzen hing. Jetzt kam der heikelste Teil. Während sie sich hinüberschwang, würde sie einige Herzschläge lang deutlich vom Schein der Laternen beleuchtet sein. Sie betete darum, dass keiner der Wachleute auf dem Turm in diesem Moment in ihre Richtung schauen würde.
Als sie sich mit dem Seil zwischen den Knien über die spitzen Enden der Pfähle rollte, war sie froh über das zweite Seil um ihre Taille. Einen Moment überkam sie Panik, als sie mit dem rechten Knie an einer der Spitzen hängen blieb. Dann hörte sie das Reißen von Stoff und spürte einen kurzen Schmerz, als der Pfahl ihre Haut aufriss. Aber sie war frei. Lautlos zog sie den Rest des Stricks nach und ließ sich rasch an der Außenseite der Umfriedung hinab. Erst als sie das raue Gras unter ihren Füßen spürte, merkte sie, dass ihre Beine zitterten. Sie wartete einen Moment, doch niemand schlug Alarm. Gebückt lief sie los. Das Seil ließ sie hängen. Zwischen den Holzpfählen war es kaum zu erkennen und so würde sie auf dem Rückweg Zeit sparen.
Ishira huschte an der Umfriedung entlang bis zu einer Stelle, an der schulterhohes Gestrüpp bis beinahe an die Palisaden wucherte. Im Schutz der Büsche entfernte sie sich vom Fort und schlug einen Bogen, um von hinten an die Bergwerkssiedlung zu kommen. Mehrmals stolperte sie in der Dunkelheit über verfilztes Gras, halb verborgene Wurzeln und andere unsichtbare Hindernisse. Tiefhängende Zweige rissen an ihren Haaren. Einer von ihnen schlug ihr ins Gesicht und traf sie heftig an der linken Wange. Für einen Moment lugte der Mond hinter den Wolken hervor. Sein Licht reichte gerade aus, um einem weiteren Ast auszuweichen. Doch bereits ein Dutzend Schritte später trat Ishira in ein Loch und knickte mit dem Fuß um. Sie biss sich auf die Lippe, um einen Schmerzlaut zu unterdrücken. Wenn sie sich jetzt den Fuß verstauchte, wäre ihr Ausflug zu Ende. Dennoch wagte sie es nicht, den Kristallsplitter einzusetzen, solange sie in Sichtweite des Lagers war.
Irgendwo in der Dunkelheit stieß ein Raku seinen schaurigen Ruf aus. In Ishiras Nacken stellten sich sämtliche Härchen auf. Jeder ihrer zitternden, abgehackten Atemzüge ähnelte mehr einem Keuchen. Ihr Herz schlug so heftig gegen ihren Brustkorb, als wollte es ihre Rippen sprengen.
Als die Laternen auf den Wachtürmen hinter den Bäumen verschwunden waren, blieb sie stehen, bis sich ihr Atem ein wenig beruhigt hatte. Jetzt konnte sie endlich den Kristall hervorholen. Er spendete gerade genug Licht, um den Boden erkennen zu können und Hindernissen auszuweichen. Geduckt ging sie weiter, bemüht, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Bei jedem noch so leisen Knacken eines trockenen Zweiges unter ihrem Fuß, das ihr laut wie eine Explosion erschien, zuckte sie zusammen. Die Innenflächen ihrer Hände waren schweißfeucht.
Im Schutz eines Busches blieb sie schließlich erneut
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