INAGI - Kristalladern
erwachsen geworden, Ken!« entfuhr es ihr, was ihm ein stolzes Strahlen entlockte. Wenn sie das nächste Mal heimkam, wäre er vielleicht gar nicht mehr ihr ‚kleiner‘ Bruder.
Kanhiro trat neben Kenjin. Ishiras Herz schien sich auszudehnen, bis es direkt in ihrer Kehle klopfte. Auf seinem Gesicht breitete sich das vertraute warme Lächeln aus, das ihr so gefehlt hatte. »Willkommen daheim, Shira!« Ohne sich um die Gegenwart des Kiresh zu scheren, streckte er seine Arme nach ihr aus und zog sie an sich. Stumm schmiegte Ishira ihre Wange an seinen Hals und schloss die Augen. Es fühlte sich gut an, ihm so nahe zu sein. Kanhiros rechte Hand wanderte über ihren Rücken aufwärts und legte sich warm in ihren Nacken. Ishira glaubte, seine Lippen ganz leicht auf ihrem Scheitel zu spüren, bevor er sie ein Stück von sich weg schob. Er veränderte die Position seiner Hand, bis er mit dem Daumen ihre Wange streicheln konnte. »Wann bist du angekommen?«
Sie musste Luft holen, bevor sie antworten konnte. »Gestern Nacht. Nach der Sperrstunde.«
Kanhiro strich ihr sanft eine Haarsträhne hinters Ohr, während er ihr zuzwinkerte. »Das lasse ich ausnahmsweise als Begründung gelten, dass wir dich erst jetzt zu sehen bekommen. Aber heute Abend rechne ich mit dir.«
Auf einmal war Ishiras Mund trocken. »Ich… kann nicht zu euch kommen, Hiro«, brachte sie mühsam hervor. »Der Hemak hat bestimmt, dass ich… diesmal im Fort schlafe.«
Irritiert zog er die Brauen zusammen. Seine Augen glitten zu ihrem Begleiter, der seinen Blick unbewegt erwiderte, und zurück zu ihrem Gesicht. Seine Miene verdüsterte sich. »Im Fort?«
»Warum denn das?« wollte Kenjin entgeistert wissen.
»Das … « setzte Ishira an, doch Kiresh Yaren schnitt sie mitten im Satz ab.
» … hat euch nicht zu interessieren«, beendete er ihren Satz brüsk.
Kanhiro versteifte sich. Ishiras Herz machte vor Schreck einen Satz, doch glücklicherweise war ihr Freund klug genug, sich nicht zu einer unüberlegten Äußerung hinreißen zu lassen. Nur sein Blick verriet, was er von der Antwort des Kiresh hielt. Als Reaktion darauf verengten sich dessen Augen kaum merklich. Er und Kanhiro maßen sich wie Kämpfer vor einem Duell. Unwillkürlich krallte Ishira ihre Finger in das Kandi ihres Freundes. »Hiro, ich weiß, dass – «
Kiresh Yaren packte sie am Arm. »Du kannst nach der Arbeit weiter mit deinen Brüdern reden«, fiel er ihr einmal mehr ins Wort. »Komm jetzt!« Mit einem ruckartigen Nicken bedeutete er ihr weiterzugehen.
Ihr Bruder schob wütend sein Kinn vor. Er sah aus, als wollte er auf den Gohari losgehen, doch Kanhiro legte ihm rasch eine Hand auf die Schulter. Sein Mund war ein harter Strich und Ishira merkte ihm an, welche Beherrschung es ihn kostete, zumindest äußerlich ruhig zu bleiben. Hilflos sah sie ihn an. Bringt euch meinetwegen bloß nicht in Schwierigkeiten, beschwor sie ihn stumm. Ich werde einen Weg finden, euch zu treffen . Irgendwie…
Während der Arbeit dachte sie den ganzen Tag über das Problem nach. Aber ihr wollte einfach kein gescheiter Einfall kommen. Dass Kiresh Yaren sie zum ersten Mal seit Noroko wieder in die Mine begleitet hatte, beflügelte ihr Denken auch nicht gerade. Sie hatte keine Ahnung, was er mit seiner Anwesenheit bezweckte, aber es machte sie nervös. Wollte er sicherstellen, dass sie nicht auf dumme Gedanken kam? Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie ihm von der Seite einen raschen Blick zuwarf. Den ganzen Tag lehnte er in kaum veränderter Haltung an der Felswand, die Arme in bekannter Weise verschränkt, sein Gesichtsausdruck absolut nichtssagend, beinahe schon gelangweilt, als würde ihn das Geschehen um ihn herum nicht im Geringsten kümmern. Dennoch war Ishira sicher, dass er sie kaum einen Moment aus den Augen ließ. Mehrmals bildete sie sich ein, seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren, doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, starrte er irgendwohin ins Leere.
Endlich gab der Anreshir dem Hauer das Zeichen, für heute Schluss zu machen. Auf ihrem Weg nach draußen begegnete ihnen niemand. Als sie am Abbaugebiet vorbeigingen, hörte Ishira überrascht das Klirren von Hacken. Arbeiteten die übrigen Bergleute noch? Stirnrunzelnd sah zu ihrem Begleiter hinüber. Hatte er sich mit Bilar abgesprochen und es bewerkstelligt, dass sie die Mine etwas früher verließen als die anderen, damit sie nicht noch einmal auf ihren Bruder und Kanhiro trafen?
Elend trottete Ishira hinter Kiresh
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