INAGI - Kristalladern
Moment hinter ihr jemand in wildes Fluchen ausbrach. Als sie sich umdrehte, sah sie einen beleibten, rotgesichtigen Händler auf einem von zwei Umasus gezogenen Fuhrwerk, der sich lautstark darüber aufregte, dass es nicht schneller voran ging, und erbost eine Faust in die Luft reckte. Er schoss ihr unter gerunzelten Brauen einen finsteren Blick zu und schrie etwas Unfreundliches in ihre Richtung. Ishira wandte sich ab. Hier fühlte sie sich noch unwohler als in der Oberstadt. In den engen Gassen staute sich die Hitze des Sommertages und es stank nach Abfällen und Abwässern. Der Lärm, den Menschen und Tiere veranstalteten, hallte von den Hauswänden wider und war beinahe mit Händen greifbar. Sie war heilfroh, als Rondar schließlich vor einer Herberge anhielt. Über dem Eingang flatterte eine Fahne, die weiß auf rotem Grund einige Schriftzeichen und ein springendes Shingei zeigte. Wie viele Gebäude in der Unterstadt war das Gasthaus vollständig aus Holz gebaut. Sein Baustil erinnerte Ishira an die Häuser der Bergleute, doch es war wesentlich größer und wirkte trotz aller Schlichtheit vornehm. Von dem überstehenden Vordach, das die beiden Stockwerke voneinander trennte, hingen Kristalllampen herab. Während Ishira von Leshas Rücken stieg, ging ihr auf, dass der Gasthof eines der Gebäude sein musste, die noch aus der Zeit vor der Eroberung stammten. Ob Rondar ihn deswegen ausgewählt hatte?
Als niemand auftauchte, um ihnen die Pferde abzunehmen, folgte Ishira ihrem Begleiter gedankenlos in den Stall, ihre Stute am Zügel. Sofort brach unter den anderen Tieren Unruhe aus. Ein weißes Pferd wieherte schrill. Lesha ließ sich von der ängstlichen Stimmung anstecken und begann zu tänzeln, was sie schon lange nicht getan hatte. Aus einer Ecke kam der Stallbursche geschossen, aufgeschreckt durch den Aufruhr. Er fuchtelte wild mit einer Heugabel herum.
»He, ihr kleinen Bastar-« Erschrocken brach er ab, als er Rondar bemerkte. »Ver-Verzeihung, Kojor«, stotterte er mit einer hastigen Verbeugung, »ich habe Euch für diese verdammten Lausejungen gehalten, die immer die Pferde ärgern.« Verlegen fuhr er sich durch seine struppigen braunen Haare, in denen einige Strohhalme steckten. Offenbar hatte der Tumult ihn aus einem Nickerchen gerissen. »Die dummen Gäule haben sich wohl bloß wegen einer Katze erschreckt«, murmelte er.
Ishira klärte den Jungen nicht über seinen Irrtum auf. Stumm drückte sie ihm Leshas Zügel in die Hand und flüchtete mit ihren Sachen aus dem Stall. Sie musste nicht lange auf Rondar warten. Seine Augen blitzten erheitert. »Was hält die Katze von einem Streifzug durch die Stadt, nachdem wir unser Gepäck auf die Zimmer gebracht haben?« fragte er sie schmunzelnd.
Ishira zwinkerte verdutzt. Hatte er sie gerade geneckt? Sie ertappte sich dabei, wie sie sein Lächeln schelmisch erwiderte. »Das würde der Katze gefallen.«
Er lachte. »Dachte ich mir.«
Als sie einige Zeit später durch die Gassen schlenderten, revidierte Ishira ihre zuerst gefasste Meinung über die Unterstadt. Zwar war der Stadtteil unbestreitbar laut und schmutzig, aber daran gewöhnte sie sich mit der Zeit und zu Fuß konnte sie sich alles viel besser anschauen. Sie bestaunte die zumeist zwei- oder dreigeschossigen Häuser, die manchmal nur wenige Schritte breit waren, und die unglaubliche Vielfalt an Waren, die in den zahlreichen Geschäften zum Kauf angeboten wurden. Ein paar Schritte vor ihnen knickte die Gasse nach links ab und unvermittelt standen sie auf einem großen Platz, auf dem sich dicht an dicht Stände und Karren reihten. Die Stände wurden von einer Unzahl Menschen umlagert, die sich die Auslagen besahen und gestenreich mit den Händlern über die Qualität der Waren und die Preise stritten. Der Platz brodelte geradezu vor Geschäftigkeit. Während Ishira sich in Rondars Windschatten einen Weg durch die Menge bahnte, ließ sie ihren Blick über die Auslagen schweifen. An einem Stand entdeckte sie eine Auswahl einfach gewebter Stoffe. Sie blieb einen Augenblick stehen und überlegte, ob sie sich ein paar Ellen davon leisten konnte, um Hemden für ihren Bruder und Kanhiro zu nähen.
Im selben Moment durchfuhr sie die Erleuchtung wie ein Schlag: Sie könnte für Kanhiro eine Landkarte sticken! Es wäre mühsam, zumal ihre Stickkünste zu wünschen übrig ließen, aber sie würde es schon irgendwie schaffen und Stoff konnte sie kaufen, ohne Verdacht zu erregen. In den Siedlungen könnte sie abends
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