INAGI - Kristalladern
auf ihrem Zimmer unbehelligt an der Karte arbeiten. Niemand würde etwas merken. Blieb nur das Problem, an die Vorlage zu kommen…
Ishira wurde gewahr, dass der Verkäufer sie misstrauisch beobachtete. Sie hatte wohl gerade etwas seltsam gewirkt, wie sie unbeweglich dagestanden und ins Leere geschaut hatte. Mit einem verlegenen Lächeln wandte sie sich ab, um Rondar zu bitten, einen Moment zu warten, doch er war nicht mehr an ihrer Seite. Suchend sah sie sich um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Offenbar hatte er gar nicht gemerkt, dass sie stehen geblieben war, um sich die Waren des Stoffhändlers anzuschauen. Ishira ging ein paar Schritte weiter und verharrte dann unschlüssig. Wie sollte sie ihren Begleiter in diesem Gewühl wieder finden? Ohne es zu ahnen, könnten sie direkt aneinander vorbei laufen. Sollte sie hier stehen bleiben in der Hoffnung, dass Rondar zurückkam, sobald er entdeckte, dass er sie verloren hatte? Oder sollte sie lieber versuchen, sich zur Herberge durchzuschlagen, und dort auf ihn warten? Sie war allerdings nicht sicher, ob sie den Weg allein finden würde.
Während sie noch hin und her überlegte, packte sie jemand von hinten am Arm. »Wen haben wir denn da?« fragte eine raue Stimme dicht an ihrem Ohr.
Ishira wirbelte erschrocken herum. Hand und Stimme gehörten zu einem vierschrötigen Gohari, der die gleiche Kleidung trug wie die Kireshi an den Stadttoren. Sie verfluchte ihr Pech. Wieso musste sie ausgerechnet die Aufmerksamkeit der Stadtwache erregen?
Der Mann hob mit der anderen Hand grob ihr Kinn. »Habe ich’s doch geahnt – eine flüchtige Sklavin!« Seine Augen verengten sich. »Dumm von dir, dich so in der Öffentlichkeit zu zeigen, Mädchen. Hast du etwa geglaubt, mit deinen blauen Augen könntest du irgendwen zum Narren halten?«
»Ich bin nicht geflüchtet, Deiro«, verteidigte sich Ishira, sobald ihre Stimme ihr wieder gehorchte. »Ich bin mit Rondar Selan unterwegs, dem Bakouran von Hemak Kirans Garde, aber wir haben uns vor ein paar Augenblicken verloren. Er sucht sicher schon nach mir.« Hektisch flogen ihre Augen über die Menge. Einige Passanten waren stehen geblieben und beobachteten die Szene, doch von Rondar keine Spur. Ihr sank der Mut. Was würden die beiden Kireshi mit ihr machen?
Der zweite Wächter – klein, drahtig und mit stechendem Blick – musterte sie mit einem höhnischen Grinsen. »Alle Achtung, den Namen hast du dir aber gut gemerkt. Weiß Kaddor, wo du den aufgeschnappt hast.« Er lachte kalt. »Die Geschichte kannst du dem Gefängnisaufseher erzählen. So was hört er nicht alle Tage.«
»Aber ich sage die Wahrheit!« rief Ishira verzweifelt. »Bitte, Deiro, hört –«
Der vierschrötige Gardist schlug ihr mit dem Handrücken so hart über den Mund, dass ihr Tränen in die Augen schossen. »Schluss jetzt!« fuhr er sie an. »Ich habe keine Lust, mir noch weitere deiner schmutzigen Lügen anzuhören!«
Ishiras Sicht verschwamm. Verstört fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Sie schmeckte Blut. Durch den Schlag war ihre Unterlippe aufgeplatzt. Panik kroch ihr den Rücken hoch. Was sollte sie tun? Wenn die Kireshi sie tatsächlich ins Gefängnis warfen – wie lange würde es dauern, bis Rondar erfuhr, was mit ihr geschehen war? Und was würden die Gohari bis dahin mit ihr anstellen? Sie sah wieder Kanhiro vor sich, wie er bewusstlos am Boden gelegen hatte, den Rücken von Henroths Peitsche bis auf den Knochen aufgerissen und voller Blut. Ihr wurde übel.
»Das Mädchen gehört zu mir!« Rondars befehlsgewohnte Stimme schnitt scharf durch die Geräusche des Markttreibens und Ishiras wachsende Verzweiflung. Seine kräftige Gestalt schob sich durch die Passanten und Schaulustigen und steuerte auf sie und die beiden Gardisten zu. Erleichterung überflutete Ishira und schwemmte ihre Ängste davon. Sie hatte sich noch nie so gefreut, ihn zu sehen.
»Sie hat die Berechtigung, ihr Dorf zu verlassen«, erklärte ihr Begleiter ruhig. Aus seinem Hemd zog er eine runde blaugraue Lederscheibe hervor, die zwei orangefarbene Tenishi – das Wappen von Rosho – zeigte, und hielt sie den Gardisten vor die Nase. Die Männer holten hörbar Luft.
Der Vierschrötige ließ Ishiras Arm los und verbeugte sich knapp. »Vergebt uns das Missverständnis, Kojor«, sagte er widerwillig. »Wir glaubten, das Mädchen würde uns eine Lüge auftischen, um sich der Verhaftung zu entziehen.«
»Ich verstehe.«
Ishira rieb geistesabwesend ihren Arm, auf dem
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