INAGI - Kristalladern
schimmernden silbergrauen Fläche, die sich am Horizont verlor. Ishira riss die Augen auf. Das musste das Meer sein, das sie auf der Landkarte gesehen hatte. Es schien endlos zu sein. An seinem Ufer erhoben sich die Mauern der Hauptstadt. Überwältigt zügelte Ishira ihre Stute. Sie konnte kaum fassen, dass es so viel Wasser und eine Siedlung solchen Ausmaßes gab.
Rondar, der gemerkt hatte, dass sie zurückgeblieben war, hielt ebenfalls an. »Eindrucksvoll, nicht wahr?« fragte er lächelnd.
»Das ist… einfach unglaublich«, stieß sie atemlos hervor.
Von den Häusern jenseits der hohen Stadtmauer war nicht viel mehr als die geschwungenen grauschwarzen Dächer zu erkennen. Die ihnen zugewandte Seite wirkte durch das viele Grün und die rechtwinklig zueinander verlaufenden Straßen jedoch großzügiger und geordneter als der zum Wasser hin gelegene Teil der Stadt. Im Westen stach eine weitläufige Anlage mit mehreren großen Gebäuden hervor. Der Palast des Statthalters?
Irgendwo in der jenseitigen Stadtmauer musste es noch ein zweites Stadttor geben. Entlang der Küste erkannte Ishira eine weitere Straße, auf der noch deutlich mehr Betriebsamkeit herrschte als auf dem Weg, auf dem Rondar und sie unterwegs waren. Sie erspähte einen regen Strom aus Reitern, Wagen und Fußgängern, die aus der Entfernung winzig wie Ameisen wirkten.
Es dauerte länger, in die Ebene hinunter zu kommen, als Ishira erwartet hatte, und auch die Stadt war weiter entfernt, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Erst am Nachmittag ragte vor ihnen endlich die Stadtmauer auf. Sie war mindestens so hoch wie vier inagische Männer übereinander. Die Steine im oberen Teil sahen anders aus, als wäre die Mauer nachträglich erhöht worden. Vielleicht hatten die Gohari die ursprüngliche Stadtmauer ausgebaut. Das gewaltige Tor hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den schlichten Eingängen der inagischen Siedlungen oder der Forts, sondern erinnerte eher an ein zweistöckiges Wohnhaus. Über dem Durchgang gab es eine Reihe schmaler Fenster, aus denen die Pfeile der Drachengeschütze ragten. An den Ecken der Dachtraufen schaukelten Metallglöckchen, die der Wind melodisch klimpern ließ. Die Dachbalken waren in Form von Amanori geschnitzt, die mit durchdringendem Blick auf die Reisenden herab starrten. Ishira blinzelte verwundert, dass die Gohari ausgerechnet die Drachen als Verzierung gewählt hatten, bis ihr bewusst wurde, dass das Tor wahrscheinlich noch aus der inagischen Zeit stammte. Falls die Erbauer damit ihre Feinde hatten abschrecken wollen, waren sie mit ihrem Vorhaben allerdings kläglich gescheitert.
Auf beiden Seiten des Tores standen je vier Kireshi Wache. Ihre Kleidung war bis auf die sattgelbe Farbe ihrer langen Westen in dunklem Rot gehalten. Auf den schwarzvioletten Aufschlägen prangte ein katzenartiges Raubtier. Ein Ringi? Ishira hatte nur ein einziges Mal in ihrem Leben einen dieser lautlosen Jäger zu Gesicht bekommen. Vor vielen Jahren hatte sich einmal einer zu nah an die Siedlung heran gewagt und war von den Schützen des Forts erlegt worden. Das Wappentier von Korhan war ein Erubuko, also musste Inuyara entweder ein eigenes Wappen besitzen oder es war das Emblem des Marenash.
Als Ishira hinter Rondar durch den schattigen Torbogen ritt, der beinahe so hoch war wie die Stadtmauer und so breit, dass vier Reiter bequem nebeneinander Platz gehabt hätten, kam sie sich winzig klein vor. Die Hufschläge ihrer Pferde hallten dumpf von den steinernen Wänden wider. Am Ende saßen zwei Soldaten auf der Stufe eines kleinen Wachhäuschens und vertrieben sich die Zeit mit einem Würfelspiel. Die Straße dahinter bot nicht mehr als die Sicht auf endlos erscheinende Mauern zu beiden Seiten, die alle paar Pferdelängen von schlichten hölzernen Eingangstoren durchbrochen wurden. Von den umfriedeten Gebäuden lugte lediglich das oberste Geschoss hervor.
»Dies hier ist die Oberstadt«, erklärte Rondar. »Hier wohnen die einflussreichen adligen Familien, von denen viele im Palast des Marenash beschäftigt sind.«
Aus einem Tor rechts vor ihnen traten zwei ältere Männer, die in mehrlagige, farbenprächtige Gewänder mit weiten Ärmeln gehüllt waren und hohe schwarze Kopfbedeckungen trugen. Einer der Beiden hielt etwas in der Hand, das aussah wie gefaltetes Papier, und fächelte sich damit Luft zu. Bevor der Diener hinter ihnen das Tor schloss, erhaschte Ishira einen Blick in einen sorgfältig angelegen Garten, der sie
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