INAGI - Kristalladern
an den des Heilers erinnerte – nur dass dieser wesentlich größer war. Die Vorstellung, dass vor der Eroberung Inagiri hinter jenen Mauern gelebt hatten, zog ihr den Magen zusammen. Die Gohari hatten ihrem Volk alles genommen: ihr Land, ihren Besitz, ihre Freiheit.
Als Ishira ihren Blick von den Männern abwandte, entdeckte sie einen geschnitzten Holzpfeiler, auf dessen Spitze ein dekorativer vergitterter Kasten saß, in welchem ein Kristall eingeschlossen war. Erst jetzt fiel ihr auf, dass dies nicht die einzige Lichtquelle war. Die ganze Straße war in regelmäßigen Abständen mit Kristalllaternen bestückt. Ishira verschlug es die Sprache. Die Einwohner Inuyaras leisteten sich den Luxus, nicht nur ihre Häuser, sondern sogar die Gassen mit Kristallen zu beleuchten! Das bittere Bedauern schlug unversehens in Zorn um. Dafür rackerten sich die Inagiri in den Minen ab? Dass die Gohari nachts gemütlich durch ihre Stadt spazieren konnten?
Eine Gruppe Kireshi kam ihnen entgegen. Ishira zwang sich zu einem unbeteiligten Gesichtsausdruck und fiel mit ihrer Stute hinter Rondar zurück, um sie passieren zu lassen. Die auffällige Erscheinung der fünf Reiter weckte ungewollt ihre Aufmerksamkeit. Ihre Westen waren leuchtend rot und auf der Stirn trugen alle Männer eine auffällige Tätowierung in derselben Farbe. Ishira vergaß ihren Ärger. »Was waren das für Krieger, Deiro?« fragte sie, als die Gruppe außer Hörweite war.
»Koshagi«, erwiderte ihr Begleiter. »Sie stehen im Dienst des Marenash. Die meisten von ihnen gehören zur Palastwache.«
Koshagi. Die Bezeichnung hatte sie doch schon einmal gehört? Richtig, am ersten Abend in Mebilors Haus hatte der Telan etwas davon gesagt, dass viele von ihren herausragende Kämpfer seien. Unwillkürlich drehte Ishira den Kopf und blickte den Reitern nach. Sie musste Rondar später unbedingt genauer nach diesen Männern fragen.
Einige Querstraßen weiter kreuzten vier Sklaven ihren Weg, die an langen Stangen einen bemalten, nach drei Seiten offenen Kasten trugen. Das Mädchen, das darin saß, sah aus wie eine Göttin. Sie hatte in den Forts schon einige goharische Frauen gesehen, aber keine hatte vom kleinen Finger bis zur Schuhspitze solche Grazie und Anmut verströmt. Es musste Stunden gedauert haben, ihr glänzendes Haar zu all diesen Zöpfen zu flechten und kaskadenartig aufzustecken, und ihr Gewand besaß so viele Lagen, dass Ishira sich nicht vorstellen konnte, wie das Mädchen darin laufen sollte. Ihr Gesicht war stark geschminkt und verlieh ihr eine maskenhafte Schönheit. Auf einmal wurde Ishira bewusst, wie wenig sie selbst an diesen Ort passte. Das bittere Gefühl kehrte zurück. Alles, was einst den Inagiri gehört hatte, war nun in der Hand der Gohari.
Kurz darauf führte die Straße über eine geschwungene Brücke. Ishira rümpfte die Nase. Das Wasser unter ihnen war schmutzig braun und verströmte einen modrigen Geruch, was vermutlich auf den Abfall zurückzuführen war, der in den Fluten trieb.
»Auf der anderen Seite beginnt die Unterstadt«, sagte Rondar. »Dort leben die Kaufleute und Handwerker und dort geht es auch zum Hafen.« Er lächelte. »In diesem Teil der Stadt geht es ein wenig geschäftiger zu. Bleib also dicht bei mir!«
Kaum hatten sie die Brücke überquert, verstand Ishira, was der Bakouran gemeint hatte. Nur dass ‚ein wenig geschäftiger‘ eine drastische Untertreibung war. Vielmehr hatte sie das Gefühl, erneut in eine andere Welt einzutauchen – eine laute, beängstigende Welt. Im Gegensatz zur übersichtlichen Oberstadt war die Unterstadt ein wahres Labyrinth. Ishira war schlichtweg erschlagen von dem Wirrwarr aus verwinkelten Gassen und Treppen. Wie fanden die Einwohner sich hier nur zurecht? Und woher kamen auf einmal die vielen Menschen? Von einem Moment zum nächsten war sie zwischen Fußgängern und Karren eingekeilt. Es herrschte ein derartiges Gedränge und Geschiebe, dass sie Mühe hatte, Rondars Anweisung, dicht bei ihm zu bleiben, zu befolgen. Noch nie hatte sie so viele Menschen auf einen Haufen gesehen, die alle in verschiedene Richtungen hasteten. Mitten im Gewühl entdeckte sie auch zwei Frauen von derselben dunklen Hautfarbe wie Telan Mebilors Diener.
»Wir suchen uns erst mal ein Quartier und lassen die Pferde dort! Zu Fuß kommen wir leichter voran!« rief Rondar über die Schulter – oder zumindest nahm Ishira an, dass dies in etwa seine Worte waren. Verstehen konnte sie nur die Hälfte, weil im selben
Weitere Kostenlose Bücher