Incarceron
auf.«
»Aber wie kommt dieser Blaize an all diese Bilder?« Plötzlich riss Keiro entsetzt den Kopf hoch. »Glaubt ihr, ich bin auch hier drin?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er zu dem Regal, das mit einem K markiert war, fand eine lange Leiter, lehnte sie dagegen und kletterte hurtig empor. Dann begann er damit, einzelne Bände herauszuziehen und sie kurz darauf ungeduldig wieder zurückzuschieben.
Attia war zur A -Sektion gegangen, Gildas war mit Lesen beschäftigt, und so suchte sich Finn den Buchstaben F und schaute selber nach.
FIMENON
FIMMA
FIMMIA
FIMOS NEPOS
FINARA
Seine Hände zitterten, als er die Seite umblätterte und mit dem Finger die Zeilen hinabfuhr, bis er gefunden hatte, wonach er suchte:
FINN.
Â
Er starrte auf seinen Namen. Es gab sechzehn Finns, und er selber war der letzte. Da war die Nummer, schwarz und vertraut; die Nummer, die er in der Zelle auf seinem Overall gefunden und die er auswendig gelernt hatte. Daneben sah er jetzt ein kleines Zeichen, bestehend aus zwei Dreiecken, die sich überschnitten, wobei eines auf dem Kopf stand. Ein Stern. Ihm wurde beinahe schlecht vor Angst, als er ihn berührte.
Bilder begannen abzulaufen. Er selbst, wie er durch den weiÃen Tunnel kroch. Sofort stoppte er den Fluss.
Da war er. Er sah jünger aus, sauberer, sein tränenüberströmtes Gesicht wie eine starre Maske, die Furcht und zugleich Entschlossenheit zeigte. Es tat ihm weh, sich dieses Bild anzuschauen. Er versuchte, ein Bild weiter vorne in der Reihe zu öffnen, doch dies war das erste. Davor gab es nichts.
Nichts .
Sein Herz pochte. Langsam scrollte er weiter.
Er und Keiro. Bilder der Comitatus. Er selbst beim Kämpfen, Essen, Schlafen. Einmal auch beim Lachen. Er wuchs heran, veränderte sich. Irgendetwas an ihm ging verloren. Beinahe hatte er das Gefühl, dabei zuzusehen, wie es verschwand. Die ständig wechselnden Bilder zeigten, wie er zu jemandem wurde, der härter war und wachsamer und zunehmend finsterer blickte, immer im Hintergrund von Keiros Streitereien und Intrigen. Auf einem Bild sah er sich im Moment eines Anfalls, und er starrte voll entsetztem Abscheu auf seinen zusammengekrümmten, zuckenden Körper und sein verzerrtes Gesicht.
Schnell lieà er die Bilder weiterlaufen, beinahe zu rasch, um sie mit dem Auge noch zu erfassen, bis er sie schlieÃlich mit dem Finger stoppte.
Der Hinterhalt.
Er sah sich selbst, festgehalten im Augenblick, wie er schon halb aus den Ketten befreit war und den Arm der Maestra gepackt hatte. Sie musste gerade begriffen haben, dass sie in eine Falle gegangen war; ihr Gesicht war genau dann eingefangen, als sich ein seltsamer, maÃlos enttäuschter, beinahe verletzter Ausdruck auf ihr Gesicht legte und ihr Lächeln zu einer erstarrten Grimasse wurde.
Wenn es noch mehr Bilder gab, dann wollte Finn sie lieber gar nicht erst sehen.
Er schlug das Buch zu, und das laute Geräusch in dem stillen Raum entlockte Gildas ein unwilliges Brummen. Attia sah zu Finn hinüber.
»Irgendetwas gefunden?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Nichts, was ich nicht schon gewusst hätte. Wie sieht es bei dir aus?«
Ihm fiel auf, dass sie die A -Sektion verlassen hatte und sich nun den C s zugewandt hatte. »Warum bist du denn hier?«
»Ich habe darüber nachgedacht, dass Blaize sagte, es würde kein AuÃerhalb geben. Ich dachte, ich suche mal nach Claudia .«
Finn fröstelte. »Und?«
Sie hielt ein Buch in ihren Händen, einen groÃen, grünen Band. Rasch klappte sie ihn zu, drehte sich um und schob ihn wieder ins Regal. »Nichts. Er irrt sich. Claudia lebt nicht innerhalb der Grenzen von Incarceron.«
In ihrer Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit. Es klang, als versuche Attia, irgendetwas zurückzuhalten, doch noch ehe er sich darüber Gedanken machen konnte, lieà ihn Keiros zorniges Zischen herumfahren.
»Hier ist alles über mich aufgezeichnet. Alles!«
Finn wusste, dass Keiro als Säugling Waise geworden war und mit einer Bande schmutziger Herumtreiber aufgewachsen war, die immer im Umkreis der Comitatus herumgelungert hatten. Mit dabei gewesen waren die Bastarde von Kriegern, Kinder von Frauen, die die Comitatus getötet hatten, und Kinder, die niemand kannte. Sicherlich hatten in diesem wilden Haufen alle mit Zähnen und Klauen um jeden Bissen gekämpft, um zu überleben, und dafür,
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