Incarceron
Jahrtausende gar  â dauern würde, bis sich so etwas bildete.
Während er Attia aus der Küche über den Vorratsraum ins Observatorium folgte, verlor er sich einen Moment lang in einem Tagtraum, der eine entsetzliche Faszination auf ihn ausübte. Er stellte sich vor, dass Incarceron tatsächlich eine Welt war, uralt und lebendig, und dass er nur eine mikroskopisch kleine Kreatur darin war, winzig wie eine Bakterie. Er malte sich aus, dass auch Claudia hier war und dass selbst Sapphique ein Traum gewesen war, den Gefangene träumten, die den Gedanken nicht ertragen konnten, dass es kein Entkommen gab.
»Und dann erst diese Bücher!« Keiro stieà die Tür zur Bibliothek auf und lieà einen angewiderten Blick darüber wandern. »Wer braucht denn so viele Bücher? Wer sollte sich schon damit abplagen, sie alle zu lesen?«
Finn folgte ihm in den Raum. Keiro konnte nur mühsam seinen eigenen Namen lesen und war stolz darauf. Einmal hatte er es auf einen Kampf ankommen lassen, bei dem es um eine angebliche Beleidigung gegangen war, die einer von Jormanrics Schlägern an die Wand geschmiert hatte. Keiro hatte den Kampf zwar überlebt, war aber schlimm zugerichtet worden. Finn erinnerte sich daran, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, ihm zu sagen, dass die Kritzeleien vollkommen harmlos gewesen waren. Stattdessen hatte er Keiro widerwillig bewundert.
Finn hingegen konnte lesen. Er hatte keine Ahnung, wer ihm das beigebracht hatte, aber er beherrschte diese Fähigkeit sogar besser als Gildas, der die Worte halblaut vor sich hin murmelte und in seinem ganzen Leben nicht mehr als ungefähr ein halbes Dutzend Bücher zu Gesicht bekommen hatte. Der Sapient war jetzt hier, saà am Tisch in der Mitte der Bibliothek und blätterte mit seinen knotigen Fingern in einem groÃen, ledergebundenen Kodex, die Augen ganz nah am handschriftlichen Text.
Rings um ihn herum auf Regalen, die bis zur im Dunkeln liegenden Decke reichten, standen Blaizes Bücher. Die Bibliothek
war in der Tat riesig. Ãberall ragten die schweren Bände mit den grünen und rostbraunen Einbänden und den goldenen Ziffern darauf wie Türme empor.
Gildas hob den Kopf. Finn hatte geglaubt, er sei in Ehrfurcht versunken, aber seine Stimme war beiÃend. »Bücher? Hier gibt es keine Bücher, mein Junge.«
Keiro schnaubte. »Deine Augen sind noch schlechter, als du glaubst.«
Verärgert schüttelte der alte Mann den Kopf. »Diese Bände hier sind nutzlos. Seht sie euch doch an. Namen und Zahlen. Was sollen wir daraus schlieÃen?«
Attia nahm ein Buch aus dem nächstbesten Regal und schlug es auf; Finn lugte ihr über die Schulter. Der Wälzer war mit dickem Staub bedeckt, und die Ränder der Seiten waren von Würmern angefressen und so trocken, dass sie zu zerfallen begannen. Auf der aufgeschlagenen Seite befand sich eine Liste mit Namen:
MARCION
MASCUS
MASCUS ATTOR
MATTHEUS PRIME
MATTHEUS UMRA.
Dahinter folgte jeweils eine lange Zahl, bestehend aus acht Ziffern.
»Gefangene?«, fragte Finn.
»Ganz eindeutig. Das sind Namenslisten. Ganze Bände voll. Für jeden Flügel, jede Ebene. Und sie reichen weit, weit zurück.«
Neben jedem Namen befand sich ein kleines Kästchen mit dem Abbild eines Gesichts. Attia berührte eines und lieà daraufhin beinahe das Buch fallen. Finn keuchte vor Schreck, was Keiro zum Tisch eilen lieÃ, wo er sich hinter Finn auf die Bank kniete.
»Sieh mal einer an«, sagte er.
Hinter jedem Namen lief eine ganze Reihe von Bildern in schneller Folge über die Seite, sie tauchten auf und verschwanden wieder, bis Attia mit einer ihrer zarten Fingerspitzen darauf tippte, woraufhin das Bild als Standbild stehen blieb. Dann öffnete sich das Vollbild eines buckligen Mannes in einem gelben Mantel, das die ganze Seite ausfüllte. Als Attia wieder loslieÃ, setzte sich der Bilderstrom erneut in Bewegung. Hunderte von Bildern desselben Mannes waren zu sehen, auf einer StraÃe, auf der Reise, plaudernd neben einem Feuer, schlafend. Sein ganzes Leben war dort aufgezeichnet. Vor Attias, Finns und Keiros Augen wurde der Mann älter und gebeugter. Nun brauchte er einen Gehstock, bettelte und verfiel schlieÃlich aufgrund irgendeiner entsetzlichen Krankheit.
Und dann: nichts mehr.
Finn bemerkte leise: »Die Augen. Offenbar beobachten sie nicht nur, sondern sie zeichnen auch
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