Incarceron
gerade wahllos drücken, als Jared ihre Finger festhielt.
»Nicht! Die falsche Kombination löst ohne Zweifel einen Alarm aus. Oder noch Schlimmeres, und dann sitzen wir fest. Du musst vorsichtig vorgehen, Claudia.«
Er zog einen kleinen Scanner aus der Tasche und begann damit, Daten zu sammeln und sie abzugleichen, während er zwischen den rostigen Ketten umherkroch.
Claudia war ungeduldig; sie suchte die Kellerräume ab und kehrte dann wieder zurück.
»Beeil dich, Meister.«
»Ich kann das nicht beschleunigen.« Er war vollkommen in seine Arbeit vertieft, und seine Finger bewegten sich bedächtig.
Während der vielen Minuten, die verstrichen, wurde Claudia ganz übel, denn sie wollte nicht mehr abwarten müssen. So zog sie den Schlüssel heraus und besah ihn sich hinter Jareds Rücken. »Glaubst du â¦Â«
»Warte, Claudia. Ich bin mir bei der ersten Zahl fast sicher.«
Das konnte ja noch Stunden dauern! An der Tür befand sich eine Scheibe, deren glänzende Bronze einen grünlichen Stich hatte und die etwas heller als das umliegende Metall war. Ãber Jareds Kopf hinweg streckte Claudia die Hand aus und schob die Abdeckung beiseite.
Ein Schlüsselloch.
In der gleichen Form wie der Bart des Kristalls: sechseckig.
Sie schob den Schlüssel hinein.
Sofort glitt er ihr aus den Fingern.
Â
Claudia kreischte auf, und Jared fuhr entsetzt zurück, als sich der Schlüssel von selbst zu drehen begann. Die Ketten zerfielen. Rost rieselte zu Boden. Ruckelnd öffnete sich das Tor.
Jared rappelte sich hektisch auf und überprüfte alle Wandvorrichtungen, dann keuchte er: »Claudia, das war so dumm von dir!« Aber das kümmerte Claudia nicht; sie lachte, denn das Tor
des Gefängnisses stand jetzt offen. Sie hatte Incarceron aufgeschlossen.
Die letzte Kette glitt zu Boden.
Das Echo hallte in den Kellern wider.
Jared wartete ab, bis der letzte zurückgeworfene Ton verstummt war.
»Und?«, fragte Claudia.
»Niemand kommt. Da oben scheint alles ungestört weiterzulaufen.«
Mit einer Hand wischte er sich den Schweià von der Stirn. »Offenbar befinden wir uns so tief unten, dass sie uns nicht hören können. Wir hatten bislang mehr Glück, als wir verdienen, Claudia.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich verdiene es, Finn zu finden. Und er verdient es, befreit zu werden.«
Abwartend starrten sie beide in den dunklen Spalt, der sich vor ihnen aufgetan hatte. Claudia erwartete halb, dass Massen von Gefangenen herausquellen würden.
Aber nichts geschah. Also trat sie vor und öffnete das Tor vollständig.
Und dann sah sie hinein.
25
Ich erinnere mich an die Geschichte von einer jungen Frau
im Paradies, die einst einen Apfel aÃ. Ein weiser Sapient
hatte ihr die Frucht gegeben. Danach sah sie die Dinge mit
anderen Augen. Was sie für Goldmünzen gehalten hatte,
waren abgestorbene Blätter. Prächtige Kleidungsstücke waren
Fetzen aus Spinnweben. Sie sah, dass ihre Welt von einer
Mauer umgeben war, und sie entdeckte ein verschlossenes Tor â¦
Ich werde schwach. Die anderen sind alle tot. Jetzt habe ich
den Schlüssel zwar fertiggestellt, wage aber doch nicht,
ihn auch zu benutzen.
LORD CALLISTONS TAGEBUCH
Â
Â
D as war unmöglich!
Claudia stand wie erstarrt und spürte, wie alle Hoffnungen in ihr wie ein Kartenhaus zusammenfielen.
Sie hatte dunkle Korridore erwartet, ein Labyrinth aus Zellen und feuchte Steinflure, in denen Ratten hausten.
Aber nicht dies.
Hinter dem merkwürdig abschüssigen Eingang lag ein weiÃer Raum, der eine perfekte Kopie vom Arbeitszimmer ihres Vaters war. Die Maschinen surrten geschäftig, und der einzige Tisch und der dazugehörige Stuhl standen ordentlich in dem Streifen Licht, der von der Decke herabfiel.
Claudia stieà verzweifelt den Atem aus. »Das ist ja genau das gleiche Zimmer.«
Jared scannte alles gründlich. »Der Hüter ist ein pedantischer Mann.« Er lieà sein Prüfgerät sinken, und Claudia sah an seinem Gesicht, dass auch er verblüfft war. »Claudia, nun, da das Tor offen ist, wissen wir mit Sicherheit, dass es hier kein Gefängnis und kein unterirdisches Labyrinth gibt. Dieser Raum hier ist alles.«
Entsetzt schüttelte Claudia den Kopf. Dann betrat sie das Zimmer.
Sofort bemerkte sie denselben Effekt wie schon zuvor: Da war wieder dieses seltsame Verschwimmen und Klicken. Der
Weitere Kostenlose Bücher