Incarceron
johlten und schrien quer über den Spalt hinweg Beleidigungen. Ihr Spott wurde von den glatten, unerklimmbaren Steinplatten zurückgeworfen.
Auf der gegenüberliegenden Seite warteten die Civitates wie eine lange Reihe von Schatten.
Der Spalt war eine zerklüftete Ãffnung, die sich quer durch den FuÃboden zog, welcher aus glattem, schwarzem Obsidian bestand. Wenn ein Stein in die Schlucht geworfen wurde, dann fiel er so tief, dass der Klang des Aufpralls verschluckt wurde, ehe er den Weg nach oben gefunden hatte. Die Comitatus hielten den Spalt für bodenlos. Einige sagten gar, ein Sturz durch die Ãffnung würde bedeuten, durch ganz Incarceron bis in das geschmolzene Herz der Erde zu fallen. Und tatsächlich stieg Hitze aus den Tiefen hervor, eine giftige Ausdünstung, die die Luft zum Schwirren brachte. Irgendein Gefängnisbeben war
dafür verantwortlich gewesen, dass sich ein Teil des Gesteins vom Rest abgelöst hatte und nun als nadeldünne Felsennase in die Mitte der Schlucht emporragte. Der Dorn, wie die Steinsäule genannt wurde, war oben abgeflacht, rissig und verwittert. Zwischen dem Dorn und dem festen Boden gab es nach beiden Seiten hin zwei metallene Brücken, die angelaufen und schwarz vom Schweinefett waren. Die Mitte war ein neutraler Ort, der niemandem gehörte; die verfeindeten Banden des Gefängnisflügels nutzten diese Stelle, wenn es einen Waffenstillstand zu verabreden galt, Verhandlungsbereitschaft erklärt wurde oder es zum schwierigen und nur zögerlich betriebenen Austausch von Gefangenen und Lösegeld kam.
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Jormanric saà auf seinem Thron am unbefestigten Rand des Spalts; von hier aus hatte er schon häufig Sklaven, die ihm Schwierigkeiten gemacht hatten, ins Verderben gestoÃen. Die Comitatus umringten ihn, und sein kleiner Hundesklave kauerte am Ende seiner Kette.
»Sieh dir nur Jormanric an«, flüsterte Keiro Finn ins Ohr. »Groà und fett ist er.«
»Und genauso eitel wie du.«
»Ich habe immerhin einen Grund dazu, eitel zu sein«, schnaubte sein Eidbruder.
Finn jedoch konnte die Augen nicht von der Maestra abwenden. Als man sie hereinführte, huschte ihr Blick rasch über die Menschenmenge, die wackeligen Brücken und ihr Volk, das in der flirrenden Luft dahinter wartete. Dort drüben schrie ein Mann auf, und dieser Laut lieà sie ihre Fassung verlieren. Sie riss sich von ihren Wachen los und rief verzweifelt: »Sim!«
Finn fragte sich, ob das ihr Ehemann war. »Komm schon«, sagte er zu Keiro und stieà ihn vorwärts.
Die Menge wich zurück, kaum dass die Menschen Finn und
Keiro erkannt hatten. Man merkt es daran, wie sie mich ansehen , dachte Finn verbittert; es machte ihn zornig zu wissen, dass der alte Mann recht gehabt hatte. Er trat hinter die Maestra und packte sie am Arm. »Denk daran, was ich dir versprochen habe. Dir wird nichts geschehen. Aber bist du auch sicher, dass deine Leute das Ding mitgebracht haben?«
Sie funkelte ihn zornig an. »Sie werden nichts zurückhalten. Es gibt Menschen, die wissen, was Liebe ist.«
Dieser Seitenhieb traf Finn sehr. »Vielleicht habe ich das einst auch gewusst.«
Jormanric beobachtete sie, und es fiel ihm sichtlich schwer, seine leeren Blicke zu fokussieren. Nachdrücklich stocherte er mit einem seiner Finger, an dem ein auffälliger Ring prangte, durch die Luft in Richtung Brücke und schrie heiser: »Macht sie bereit.«
Keiro bog der Frau die Arme auf den Rücken und fesselte ihre Hände. Finn sah dabei zu und murmelte: »Du sollst wissen, wie leid es mir tut.«
Sie hielt seinem Blick stand. »Mir tust vor allem du selber leid.«
Keiro lächelte verschmitzt. Dann schaute er zu Jormanric. Der Flügelherr erhob sich schwerfällig und trat an den Rand der Schlucht, um von dort aus einen finsteren Blick über die versammelten Civitates wandern zu lassen. Sein verdrecktes Kettenhemd klirrte, als er seine dicken Arme vor seiner Brust verschränkte. »Hört mich an, ihr da drüben!«, rief er mit donnernder Stimme. »Ihr bekommt sie zurück, wenn ihr ihr Gewicht in Schätzen aufwiegt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und damit meine ich: keine Legierungen und keinen Ausschuss.«
Seine Worte vermischten sich mit den dampfenden Hitzeschwaden.
»Zuerst dein Wort darauf, dass es keinen Verrat gibt.« Die Antwort war eiskalt vor Zorn.
Jormanric grinste. Ket-Saft
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