Incarceron
Ich hatte geglaubt, ich könne Wahrheit und Lüge voneinander unterscheiden. Von jetzt an werde ich es nie wieder wagen, einem Fremden gegenüber freundlich zu sein. Und das werde ich dir niemals verzeihen!«
Ihr Hass schien ihn zu versengen.
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Als sie sich umdrehte, begann die Brücke zu schlingern. Vor Finns Augen verschwamm der Abgrund. Die Maestra schien eine Sekunde lang wie erstarrt zu sein und schrie dann gellend auf. Finn keuchte: »Nein!«, und machte einen taumelnden Schritt auf sie zu. Doch Keiro hielt ihn zurück und brüllte etwas. Ein metallisches Kreischen war zu hören, und als ob der Schmerz in Finns Kopf die Dinge in Zeitlupe geschehen lieÃ, sah er, wie die Ketten und Nieten, die die Brücke hielten, ruckten und hin und her geschleudert wurden. Finn hörte Jormanrics tobendes Gelächter, und da begriff er, dass Jormanric sich nicht an die Abmachung hielt.
Auch die Maestra schien es begriffen zu haben. Sie richtete sich kerzengerade auf und warf Finn einen einzigen Blick geradewegs in seine Augen zu. Dann war sie verschwunden. Sie und Sim und die anderen waren fort und fielen in die endlose Tiefe hinab. Das rostige Brückenkonstrukt schwang wie in wilden Zuckungen hin und her und krachte mit klapperndem Getöse gegen die Seitenwände des Spalts.
Das Echo der Schreie verebbte.
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Finn sank auf die Knie und starrte ungläubig und angewidert hinterher. Eine Welle der Ãbelkeit erfasste ihn. Er umklammerte den Kristall, und durch das Dröhnen in seinen Ohren drang Keiros ruhige Stimme an sein Ohr: »Ich hätte es wissen müssen, dass dieser alte Schuft so etwas tut. Und ein Klumpen Glas scheint mir ein sehr geringer Lohn für all deine Mühen. Was ist das überhaupt?«
In einer einzigen Sekunde bitterer Klarheit wusste Finn, dass er sich nicht geirrt hatte. Er musste auÃerhalb geboren worden sein. Er wusste es, weil der Gegenstand, den er in der Hand hielt, etwas war, das schon seit Generationen niemand mehr in Incarceron gesehen hatte. Keiner würde seinen Zweck auch nur erahnen können. Für ihn jedoch war die Form des Kristalls vertraut; er hatte ein Wort für ihn, und er wusste, wozu man ihn benutzte.
Es war ein Schlüssel .
Dunkelheit und Schmerz stiegen in Finn auf und übermannten ihn.
Als er zu Boden sackte, fing Keiro ihn auf und hielt ihn fest.
Teil 2
Unter der Erde sind die Sterne Legende
8
Die Jahre des Zorns haben ein Ende gefunden, und nun kann
nichts mehr so sein wie früher. Der Krieg hat den Mond verdunkelt
und die Gezeiten zum Stillstand gebracht. Wir müssen eine
schlichtere Art zu leben finden. Wir müssen in die Vergangenheit
zurückkehren; alles und jeder muss seinen festgelegten Platz haben.
Die Freiheit ist ein geringer Preis, den wir fürs Ãberleben zahlen.
DAS DEKRET VON KÃNIG ENDOR
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F inn spürte, wie er Tausende Meilen in den Spalt stürzte, ehe er auf einem Vorsprung aufschlug. Atemlos hob er den Kopf. Ringsum war er von tiefster Schwärze umfangen. Neben ihm saà jemand, an den Felsen gelehnt.
Sofort fragte Finn: »Der Schlüssel �«
»Neben dir.«
Im Geröll ertastete Finn den glatten, schweren Gegenstand. Dann wandte er sich um.
Ein Fremder saà dort. Er war jung, hatte langes, dunkles Haar und trug einen Umhang, ähnlich dem der Sapienti, mit dem üblichen hohen Kragen, der jedoch fadenscheinig und geflickt war. Der Mann deutete auf den Felsen und sagte: »Sieh hin, Finn.«
Im Felsen befand sich ein Schlüsselloch. Licht schimmerte hindurch. Und da sah Finn, dass der Felsen eine kleine, schwarze,
durchsichtige Tür war, durch die Sterne und fremde Galaxien zu erkennen waren.
»Dies ist die Zeit selbst. Sie musst du aufschlieÃen«, sagte Sapphique. Finn versuchte, den Schlüssel zu heben, aber er war so schwer, dass er beide Hände dafür benötigte, und selbst dann noch vibrierte der Schlüssel von der Anstrengung seiner Muskeln. »Hilf mir«, keuchte er.
Aber das Loch wurde immer kleiner, und als es Finn endlich gelungen war, den Schlüssel ruhig zu halten, war das Licht zur GröÃe eines Nadelöhrs geschrumpft.
»So viele haben es schon versucht«, flüsterte Sapphique ihm ins Ohr. »Und so viele haben bei diesem Wagnis ihr Leben verloren.«
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Eine Sekunde lang war Claudia wie erstarrt vor verzweifelter Panik. Dann setzte sie sich in Bewegung. Sie lieà den
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