Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
Vom Netzwerk:
überließ er John sich selbst.
    Um die Ameisen auf dem Teppich und an der Wand zu beseitigen, holte John den Staubsauger aus der Abstellkammer. Als das Wohnzimmer wieder sauber war, verstaute er den Staubsaugerbeutel in einer Plastiktüte, die er ordentlich verknotete und in den Müllcontainern im Keller entsorgte.
    Auf der Fahrt ins Büro machte er sich klar, dass er das Problem damit noch nicht endgültig beseitigt hatte. Gewiss hielten sich noch etliche Ameisen in irgendwelchen Nischen und Ritzen des Wohnzimmers versteckt. Er beschloss, die Angelegenheit in professionelle Hände zu legen, und ließ sich von der Auskunft mit einem Kammerjäger verbinden. Dort meldete sich jedoch nur ein Anrufbeantworter. John gab seine Nummer durch und bat um Rückruf.
    Während er im dichten Verkehr den Weg in Richtung Canary Wharf einschlug, spürte er, wie ihn wieder die Vorfreude auf den bevorstehenden Tag im Büro erfasste. Seine Arbeit erschien ihm jetzt wie ein sicherer Hafen bei stürmischer See. Als er das Hauptgebäude der McNeill Group betrat, einen fünfundzwanzigstöckigen Quaderbau aus Beton und verspiegeltem Glas, konnte er sich nicht entsinnen, jemals so motiviert hierhergekommen zu sein.
    Er seufzte und wünschte sich, dass sein Vater ihn jetzt sehen könnte, zu dessen Lebzeiten John nicht gerade ein musterhafter Sohn gewesen war. Er hatte das Geld, das ihm aufgrund der Großzügigkeit seines alten Herrn aus der Firma zugeflossen war, lediglich dazu benutzt, seine teuren Hobbys und Abenteuerreisen zu finanzieren. Für die Belange des Unternehmens hatte er sich nie sonderlich interessiert. Kein Wunder also, dass sein Vater ihm lediglich einen Chefsessel ohne Macht hinterlassen hatte. Heute verspürte John erstmals das Bedürfnis, Verantwortung für die Firma zu übernehmen.
    Er durchquerte das Foyer, nickte den beiden Mitarbeitern hinter der Empfangstheke zu und fuhr mit dem Lift in die oberste Etage, die zu dieser frühen Stunde noch nahezu verwaist war. Vom Panoramafenster seines Büros aus hatte John einen eindrucksvollen Blick nach Westen. Natürlich nahm ihm der 250 Meter hohe Canada Tower – Londons höchstes Bauwerk – ein wenig die Sicht, doch alles in allem bot sich ihm ein fantastisches Bild auf die erwachende Stadt.
    John stürzte sich in die Arbeit, und die nächsten Stunden vergingen wie ihm Flug. Es war für ihn ein völlig neuartiges Gefühl, seinem Job mit echtem Interesse nachzugehen. Er las Gesprächsnotizen, wälzte Akten, ordnete seine Unterlagen und durchforstete E-Mails. Das tat seinem verwirrten Verstand nicht nur gut, sondern bereitete ihm darüber hinaus auch noch erstaunlich viel Spaß.
    Um kurz nach elf – John hatte die Zeit völlig vergessen – öffnete sich die Tür, und eine üppige Blondine mit zeitlos schwarzem Hosenanzug trat ein.
    »Stacy! Schön, Sie zu sehen!«, sagte John und stand hinter dem Schreibtisch auf, um seine Sekretärin zu begrüßen.
    Die zuckte jedoch zusammen, als habe jemand eine Plastiktüte neben ihrem Ohr zerplatzen lassen. »Großer Gott, haben Sie mich erschreckt, Sir!«, keuchte sie. Eine Hand an die Brust gedrückt, lehnte sie sich gegen einen Schrank.
    John fiel ein, dass er vor seiner Zeitreise mehr als drei Wochen auf Caldwell Island, seinem mittelalterlichen Inselreich, verbracht hatte. Er war so lange nicht mehr im Büro gewesen, dass Stacy heute offenbar nicht mit ihm gerechnet hatte – obwohl sie seinen Terminkalender in der Regel auswendig kannte.
    »Tut mir leid«, sagte John. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich hatte heute Morgen nur so viel zu tun, dass ich noch gar nicht dazu kam, mich bei Ihnen zurückzumelden.«
    »Alles in Ordnung, Sir. Es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich hatte Sie ganz einfach nicht im Büro erwartet.« Ihr gelang schon wieder ein kleines Lächeln, gleichzeitig bedachte sie John aber auch mit einem Blick, als sei er ein kleiner Junge, der ihr einen Streich gespielt hatte. In gespieltem Ernst fuhr sie fort: »Das nächste Mal sollten Sie mir nur vorher Bescheid geben, wenn Sie nach so langer Zeit wieder unerwartet auftauchen, Sir.«
    »Aber Stacy«, erwiderte John im selben Tonfall. »Sie wussten doch, dass ich im Urlaub bin.«
    »Das war im Juni, Sir. Inzwischen ist Mitte August. In den letzten zwei Monaten wusste niemand, wo Sie stecken!« Verschwörerisch raunte sie: »Mister Guiltmore war deswegen schon sehr aufgebracht, Sir!«
    Dass Brian Guiltmore, Johns rechte Hand, aufgebracht war, störte ihn nicht. Er

Weitere Kostenlose Bücher