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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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dreieinhalb Stunden, bis er im Büro sein wollte – sein erster Arbeitstag seit Ewigkeiten. Hoffentlich fand er jetzt endlich die so dringend benötigte Ruhe.
    Er kroch unter die Decke und versuchte, sich zu entspannen. Es gelang ihm nicht. Je länger er wach lag, desto einsamer kam er sich plötzlich vor. Er verspürte den unstillbaren Drang, Laura in die Arme zu schließen und sie an sich zu drücken. Er wollte einfach nur ihren warmen Körper spüren, den Duft ihrer Haare einatmen und sich von dem tiefen inneren Frieden anstecken lassen, den sie im Schlaf ausstrahlte. Vorsichtig beugte er sich zu ihr hinüber. Sie hatte sich inzwischen vollkommen unter ihre Bettdecke verkrochen, John konnte ihre Körperformen nur erahnen. Als er sich ihr näherte, gab sie ein Knurren von sich, als wolle sie sagen: John, nicht schon wieder Sex! Er lächelte.
    Sein Lächeln erstarb, als er die Hand unter ihre Decke schob. Statt seidigem Stoff und samtweicher Haut ertasteten seine Finger etwas, das ihn im ersten Moment an einen Teppich erinnerte. Doch der Teppich war warm. Er atmete, er bewegte sich – und er knurrte erneut. Diesmal anhaltender und tiefer, eindeutig bedrohlich. John stockte der Atem. Was um alles in der Welt ging hier vor?
    Er zog seine Hand zurück, spürte, wie er zitterte. Ein unangenehmer Gestank stieg ihm in die Nase. Beißend. Tierisch. Plötzlich wusste John, was er unter der Decke ertastet hatte: Fell! Und im selben Moment, da ihm diese Erkenntnis kam, begann Lauras Bettdecke auf einmal, sich aufzubäumen. John wollte wegrennen, aber der Schreck lähmte ihn. Er konnte nicht einmal schreien, seiner Kehle entrang sich nur ein heiseres Wimmern.
    Lauras Bettdecke wölbte sich weiter, sodass sie nun einer Höhle glich. Und im Innern dieser Höhle war etwas Großes, Knurrendes, das sich nicht länger verstecken wollte. Johns Finger krampften sich in das Laken, als er sah, wie sich der geschmeidige, schwarze Schädel eines Jaguars aus der Höhle schob.
    Es ist nur ein Trugbild!, schrie Johns innere Stimme. Es ist nur ein Produkt meiner Fantasie!
    Aber warum hatte er das Biest dann berühren können?
    Im fahlen Licht erkannte er das gebleckte Raubtiergebiss und zwei goldgelbe Augen, die ihm hungrig entgegenstarrten. Ohne Eile schlüpfte die Bestie weiter unter der Bettdecke hervor. John keuchte, sein Puls raste, aber er war noch immer nicht in der Lage, sich zu bewegen. Die nackte Panik setzte seinen Willen außer Kraft.
    Das Tier war nun über ihm. John spürte die Pranken auf seiner Brust. Die Krallen stachen ihm durch den Pyjama hindurch ins Fleisch. Dann geschah das Unglaubliche: Die Bestie senkte den Kopf, öffnete das Maul und sagte: »John, wach auf!«
    Er zuckte zusammen und öffnete die Augen. Im ersten Moment schien sich nichts verändert zu haben. Das Zimmer lag im Halbdunkel, und irgendeine Gestalt machte sich an ihm zu schaffen. Allerdings gab es einen Unterschied: John konnte sich wieder bewegen! Er stieß die Gestalt von sich und rappelte sich auf.
    »John! Beruhige dich! Es ist alles in Ordnung!«
    Es war Lauras Stimme, aber erst als sie ihre Nachttischlampe anknipste und er sie klar und deutlich vor sich sah, traute er seinen Sinnen wieder.
    »Es war ein Traum«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Nichts weiter als ein Traum, Schatz.«
    John nickte und ließ sich matt ins Kissen sinken. Also hatte er kein Geräusch gehört, kein Bier in der Küche getrunken und keinen Jaguar im Bett vorgefunden! Es war nur ein Traum gewesen, das musste er sich immer wieder sagen. Nur ein Traum.
    Aber was für einer!

Kapitel 21
    Den Rest der Nacht wälzte John sich im Bett herum, ohne wieder einschlafen zu können. Im Grunde war er froh darüber. Wenn er nicht schlief, konnte er nicht träumen, und wenn er nicht träumte, hatte er weniger Angst.
    Andererseits wusste er, dass er auch bei vollem Bewusstsein halluzinieren konnte – die letzten Tage hatten es eindrucksvoll bewiesen. Momentan war er rund um die Uhr Sklave seiner Fantasie. Alles, was er tun konnte, war abzuwarten und darauf zu hoffen, dass seine Fantastereien bald verschwinden würden.
    Als um halb sieben der Wecker klingelte, fühlte er sich wie gerädert, aber er hatte genug davon, im Bett zu liegen und kein Auge zuzutun. Er freute sich auf den bevorstehenden Tag im Büro. Die Abwechslung würde ihm gewiss guttun.
    Laura hatte an diesem Morgen einen frühen Termin mit einem Klienten in Oxford, knapp hundert Kilometer weiter im Landesinneren. John

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