Incognita
war ihm keine Rechenschaft schuldig, und ein klärendes Gespräch würde sein Gemüt wieder beruhigen. Was John jedoch wunderte, war, dass er angeblich zwei Monate lang wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. Laura hatte davon nichts erwähnt, und Gordons Worten zufolge hatte der Ausflug ins sechzehnte Jahrhundert aus hiesiger Sicht nur wenige Minuten gedauert.
Etwas passte nicht zusammen.
Um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, bat John Stacy um ein paar Unterlagen zu einem Geschäftsvorfall, in den er sich im Lauf des Morgens eingelesen hatte. Er selbst wollte sich Klarheit über das aktuelle Tagesdatum verschaffen. Der Versuch, sich ins Internet einzuloggen, schlug aufgrund eines Serverproblems fehl. Als John bei Brian Guiltmore anrief, war der Anschluss belegt. Also wählte er die Nummer der Auskunft, wo ihm eine freundliche Frauenstimme mitteilte, dass heute der 11. August sei.
John bedankte sich und legte auf. Der 11. August also. Die Eröffnung der Amazonas-Sonderausstellung im National Historical Museum war definitiv am 10. Juni gewesen. Also hatte Stacy recht gehabt: Johns Zeitreise hatte nicht nur ein paar Minuten gedauert, sondern mehrere Wochen – was wiederum hieß, dass Laura und Gordon ihm etwas vorspielten! Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, ließ er sich in seinen Ledersessel zurücksinken. Es fiel ihm unendlich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Warum taten Gordon und Laura das? Ihn belügen? Weshalb gaukelten sie ihm etwas vor? John fiel keine vernünftige Antwort darauf ein, aber es machte ihm Angst.
Er spürte einen dumpfen Druck hinter den Augäpfeln und versuchte, das aufkommende Kopfweh wegzumassieren. Vergeblich. Die Situation war viel zu verwirrend, als dass er sich hätte entspannen können. Er wurde betrogen. Zudem litt er unter Verfolgungswahn und Tagträumereien, was zur Folge hatte, dass er nicht mehr zwischen Einbildung und Realität unterscheiden konnte. Es war zum Verrücktwerden!
Ein paar Minuten später kam Stacy mit den angeforderten Unterlagen zurück und legte sie auf den Schreibtisch – ein beachtlicher Stapel an Akten, Notizen, Briefen und anderen Dokumenten. Geistesabwesend blätterte John darin herum. »Wie haben Sie die Unterlagen sortiert?«, fragte er.
Stacy, die bereits wieder an der Tür angelangt war, hielt inne. »Sortiert? Oh – entschuldigen Sie, Sir. Ich wusste nicht, dass ich die Papiere sortieren soll. Ich habe einfach alles, was das Geschäft mit Imelda Armstrong betrifft, zusammengetragen.«
Ungewöhnlich, dachte John. Sehr ungewöhnlich. Normalerweise leistete Stacy außerordentlich gute Vorarbeit. Sie besaß weit mehr Organisationstalent als er selbst. Was war heute los mit ihr? Er beschloss, sie danach zu fragen.
»Stacy?«
»Ja, Sir?« Sie stand immer noch an der Tür, offenbar unentschlossen, ob sie den Aktenstapel noch einmal mitnehmen oder ihn unsortiert auf Johns Schreibtisch liegen lassen sollte.
»Warten Sie einen Augenblick.« Er stand auf, ging auf sie zu und überlegte, wie er das Gespräch mit ihr beginnen könnte. In der Vergangenheit hatten sie zwar täglich zusammengearbeitet, ein besonderes Vertrauensverhältnis war zwischen ihnen jedoch nie entstanden. Wenn es etwas gibt, über das Sie mit mir reden möchten, dann habe ich jederzeit ein offenes Ohr für Sie. Das wäre doch kein schlechter Anfang.
Er war nur noch einen Schritt von Stacy entfernt, und zum ersten Mal an diesem Tag betrachtete er sie mit voller Aufmerksamkeit. Sie sah ihn von unten herauf an, die Augen irritierend weit aufgerissen. Bildete er es sich nur ein, oder lag Angst darin? Er war nicht ganz sicher.
»Stacy, ich will Ihnen nur sagen …« Er hielt mitten im Satz inne, als ihm bewusst wurde, dass nicht nur ihre Augen ihn irritierten, sondern das ganze Gesicht. Auf Distanz sah es genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte, aber auf nur einen Meter Entfernung fielen ihm Details auf, die nicht stimmten. Die großen, blauen Augen. Die kleine Narbe über der Augenbraue, von der heute keine Spur mehr zu erkennen war. Und vor allem ihre Nase. Von vorn betrachtet gab es nicht die geringste Auffälligkeit, aber das Profil erwies sich als verräterisch. Es war eine ganz gewöhnliche Nase – nicht Stacys unverkennbare Stupsnase.
Diese Frau war nicht Stacy! Sie war jemand, der ihr ähnlich sah – verdammt ähnlich sogar – und aus irgendeinem Grund ihren Platz eingenommen hatte. Es
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