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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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sei denn, er bildete sich das wieder nur ein. Wie konnte er Gewissheit erlangen? Ihm kam eine Idee.
    »Würden Sie mir wohl freundlicherweise einen Kaffee bringen?«, fragte er.
    »Selbstverständlich, Sir.«
    »Wie üblich extra stark mit extra Milch und extra Zucker.«
    »Natürlich, Sir. Wie üblich.« Sie lächelte ihn an und verschwand aus dem Zimmer.
    John blieb noch eine ganze Minute lang am Schrank stehen und starrte geistesabwesend auf die geschlossene Bürotür. Stacy brachte ihm beinahe täglich seinen Kaffee. Schwarz. Ohne Milch. Ohne Zucker. Diese Frau jedoch hatte sich nicht einmal über seine seltsame Bestellung gewundert. John war jetzt sicher: Die Frau, die sich als Stacy ausgab, war eine Doppelgängerin. Eine Betrügerin. Die Frage war nur, was sie bezweckte.
    Sein erster Impuls war, die Polizei einzuschalten. Andererseits konnte er immer noch nicht hundertprozentig ausschließen, dass er halluzinierte. Also beschloss er, sich in dieser Angelegenheit an Floyd Decker zu wenden, den Detektiv, den er immer dann konsultierte, wenn er Informationen über potenzielle Geschäftspartner benötigte – so wie bei den Ljuganow-Brüdern.
    Die Nummer kannte John auswendig. Er griff zum Telefonhörer und wählte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Bandansage: »Der von Ihnen gewählte Anschluss ist nicht verfügbar.«
    John überprüfte die Nummer auf dem Display, hatte sich jedoch nicht verwählt. Eigenartig. Aber immerhin war es möglich, dass sein Gedächtnis ihn im Stich ließ, weshalb er sicherheitshalber noch einmal die Auskunft anrief. Dort sagte man ihm, dass im Londoner Telefonverzeichnis keine Detektei namens Decker & Partner vermerkt war. John murmelte einen Dank und legte auf.
    Stacys Doppelgängerin kam herein und brachte ihm seinen Kaffee. Mit extra Milch und extra Zucker. Als sie das Büro wieder verlassen hatte, starrte John minutenlang die Tasse an. Er hatte gehofft, dass die Arbeit in der Firma ihm über sein momentanes Tief hinweghelfen würde. Jetzt musste er erkennen, dass seine Verwirrung eher noch zunahm.
    Ein unangenehmer Gedanke schlich sich in sein Bewusstsein: Was, wenn er in dieser Situation Fehlentscheidungen traf? Natürlich konnte er das Unternehmen nicht in den Ruin treiben – dafür würde das von seinem Vater eingesetzte Treuhandgremium sorgen. Doch sechsstellige Verluste konnte er durchaus verursachen, und wenn er sich eine Reihe solcher Patzer erlaubte, würde man ihn auch noch seiner letzten Entscheidungskompetenzen berauben. Den Treuhändern war er ohnehin nur ein Dorn im Auge – jemand, der sich in Dinge einmischte, die ohne ihn schneller und besser laufen würden. Sie warteten wie die Geier auf eine Gelegenheit, ihn seines Amtes zu entheben. Johns Vater hatte in seinem Testament ausdrücklich aufgeführt, unter welchen Umständen dies geschehen konnte. Erwiesene Inkompetenz war ein solcher Umstand.
    Es ist wohl das Beste, mich vorläufig selbst zu beurlauben, dachte John. So lange, bis mein Zustand sich wieder normalisiert hat. Wenn ich nicht im Unternehmen bin, kann ich keine Dummheiten machen. Und die Treuhänder werden froh sein, wenn ich noch ein paar Tage länger zu Hause bleibe und ihnen nicht dazwischenrede.
    Allerdings wollte er Brian Guiltmore Bescheid geben und ihn in der Zeit seiner Abwesenheit als offiziellen Stellvertreter einsetzen. Brian war hundertprozentig loyal, beinahe so etwas wie ein Freund, was nicht zuletzt daran lag, dass er seine Urlaube ebenfalls auf Caldwell Island verbrachte. Sir Guiltmore. Er würde Johns Interessen besser als jeder andere wahren. Außerdem konnte er John über alle aktuellen Entwicklungen in der Firma auf dem Laufenden halten. Brian war die perfekte Wahl. Kurz entschlossen stattete John ihm einen Besuch ab.
    Guiltmores Büro lag auf derselben Etage am anderen Ende des Flurs. John klopfte an die Tür und trat ein, ohne die Aufforderung abzuwarten. Brian sprach gerade am Telefon. Als er John sah, weiteten sich seine Augen, als sehe er einen Geist vor sich. Er geriet ins Stocken.
    »… äh – Mister Stratford – kann ich Sie in ein paar Minuten zurückrufen? … Ja … Danke, Sir. Ich melde mich gleich wieder bei Ihnen. Lassen Sie sich meinen Vorschlag bis dahin noch einmal durch den Kopf gehen, Sie werden nirgends ein besseres Angebot bekommen.«
    Er legte auf und musterte John vom Schreibtisch aus, ohne aufzustehen. »John! Schön, dass du mal wieder bei uns vorbeischaust!« Seine Worte waren voller

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