Incognita
ließ ihr den Vortritt im Bad, damit sie ihre Zugverbindung erwischte. Nicht einmal für eine Tasse Kaffee blieb ihr mehr Zeit.
»Mach's gut, Schatz!« Mit Handtasche und Aktenmappe bewaffnet eilte sie zu ihm an den Frühstückstisch, um ihm einen Abschiedskuss zu geben. Sie war schon an der Tür angelangt, als sie noch einmal innehielt und sich umdrehte. »Du wirst den Tag doch durchstehen, oder?«
John freute sich über die Fürsorge in ihrer Stimme. »Klar doch«, sagte er betont zuversichtlich.
Laura schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Du musst mir nichts vorspielen«, sagte sie. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Aber denk immer an Gordons Worte: Bald wird es dir wieder besser gehen.« Sie hauchte ihm eine Kusshand zu, dann verließ sie die Wohnung.
John trank in Ruhe seinen Kaffee aus. Anschließend machte er sich im Bad fertig und zog sich an, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Hemd, Krawatte und Anzug. Ein ungewohntes, beinahe unangenehmes Gefühl auf der Haut.
Bevor er sich auf den Weg machte, schloss er sämtliche Fenster und zog die Jalousien hoch. Dabei fiel ihm die Veränderung des Ficus auf, die in der Wohnzimmerecke neben dem Fernseher stand – die welke Pflanze, die Laura zuerst weggeworfen und anschließend aus irgendeinem Grund wieder im Wohnzimmer platziert hatte. Heute waren die Blätter nicht grünbraun, sondern beinahe schwarz. Außerdem schienen sie auf eigentümliche Weise zu vibrieren und zu pulsieren, beinahe wie ein Wesen aus Fleisch und Blut.
John näherte sich der Pflanze so vorsichtig, als befürchte er, von ihr angefallen zu werden. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass es nicht die Pflanze war, die sich bewegte, sondern eine Vielzahl von Ameisen, die sich auf ihr tummelten. Tausende und Abertausende davon drängten sich auf den Blättern, krabbelten in alle möglichen Richtungen, scheinbar ohne bestimmtes Ziel. John überlegte, ob er das Bäumchen auf die Dachterrasse stellen sollte, damit die Ameisen sich nicht weiter in der Wohnung ausbreiten konnten, doch dann bemerkte er, dass die Tiere nicht nur die Pflanze bedeckten, sondern auch einen Großteil des Kübels. Von dort aus führte eine breite, wuselige Ameisenstraße bis zur Fensterwand, wo sie hinter dem Heizkörper verschwand. Die meisten der Tiere hatten dabei kleine verwelkte Blattstücke in ihre Kiefer geklemmt, die sie wie Segel senkrecht in die Höhe hoben. Das emsige Hin und Her, der pulsierende Strom aus glänzend schwarzen Insektenkörpern, das Zucken und Wackeln der braungrünen Blättchen – es war ein geradezu surrealer Anblick, faszinierend, aber auch abstoßend. John schauderte. Er würde sich nicht überwinden können, den Topf mit dem Bäumchen anzurühren, geschweige denn, ihn hinauszutragen. Verdammt! Weshalb hatte Laura diese dämliche Pflanze in die Wohnung zurückgeholt?
Ihm kam ein Gedanke: Vielleicht waren die Ameisen ebenfalls nur Einbildung. Vielleicht existierten sie gar nicht. Allerdings wollte er die Pflanze nicht erst anfassen müssen, um das herauszufinden. Er verließ die Wohnung, fuhr mit dem Lift ins Foyer und bat Chester, den Portier, darum, ihn nach oben zu begleiten.
»Ameisen? In Ihrer Wohnung, Sir?« Es klang ungläubig, immerhin lag das Penthouse im achtzehnten Stock. Insektenprobleme gab es in so luftiger Höhe selten. Dennoch erklärte Chester sich bereit, John zu begleiten.
Wenige Minuten später stand er vor dem Ficus in Johns Wohnzimmer und fuhr sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn. »Das sieht tatsächlich nicht gut aus, Mister McNeill. Ich arbeite seit über sieben Jahren in diesem Haus, aber es ist das erste Mal, dass ich so etwas erlebe.«
Gleichwohl erwies Chester sich als Herr der Lage. Er ließ sich von John eine große Plastiktüte und ein Stück Schnur geben, anschließend brauchte es keine fünf Handgriffe, bis die Pflanze mitsamt Insektenbefall sauber verpackt auf der Dachterrasse stand.
John atmete auf. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Chester«, sagte er. Gleichzeitig kramte er sein Portemonnaie aus dem Jackett und zog einen Geldschein heraus. »Nehmen Sie schon«, forderte er den Portier auf. »Sie haben mir einen riesigen Gefallen getan.«
Chester nahm zögernd den Geldschein entgegen. »Keine Ursache, Sir. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«
John klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich denke, den Rest schaffe ich allein.«
»Natürlich, Sir.« Chester bedankte sich für das Geld, dann
Weitere Kostenlose Bücher