Incognita
abermals an seinem Weinglas. Zu John sagte er: »Dein Gehirn ist durch die lange Reise überlastet. Es dauert eine Weile, bis es sich wieder umgewöhnt hat. Das Phänomen trat schon einmal auf, bei einem unserer Wissenschaftler, der innerhalb einer Woche insgesamt neun Zeitreisen absolviert hat. Er litt an Halluzinationen, aber das legte sich rasch wieder. John, ich schätze, dein momentaner Zustand wird noch ein paar Tage lang anhalten. Am Mittwoch oder Donnerstag bist du wieder ganz der Alte.«
John seufzte. Gordons Worte waren Balsam für seine Seele. Ihm fehlte nichts Ernstes. Er musste nur ein wenig Geduld aufbringen, dann würde er sich ganz automatisch regenerieren. Das Problem war nur, dass er momentan nicht so recht daran glauben konnte.
»Wir wissen inzwischen, was bei deiner Reise schiefgelaufen ist«, fuhr Gordon fort. »Wir haben den Mikrochip aus deinem Arm ausgewertet und die Ergebnisse mit unseren Computerdaten im Labor verglichen. Kurz vor Ende deiner zweiten Etappe kam es zu einer kurzfristigen Signalstörung. Die Verbindung konnte zwar wiederhergestellt werden, aber es scheint, als ob dabei ein paar Daten nicht richtig übertragen wurden.«
John überlegte. Die zweite Etappe – das war der Abstieg von den Kordilleren hinab ins Tiefland gewesen. Er erinnerte sich an den abgestürzten Lamaführer, Neyas Bruder, und an Jorge La Roqua, der ihn seinem Schicksal hatte überlassen wollen. Dadurch war es zu einem Streit zwischen John und La Roqua gekommen, letztlich sogar zum Kampf. Hatten die Erschütterungen während der Handgreiflichkeiten die Signalstörung bewirkt?
Er erzählte Gordon davon, der die Erklärung für plausibel hielt. Es folgte eine lange Diskussion über die Notwendigkeit weiterer Sicherheitsmaßnahmen bei Zeitreisen, die auch während des Nachtischs und sogar darüber hinaus, bei einem gemütlichen Glas Cognac, fortgeführt wurde. Wie viele Vorkehrungen waren bei einer kommerziellen Nutzung von Zeitreisen erforderlich? Welches Restrisiko durfte man eingehen? War hundertprozentige Sicherheit technisch überhaupt umsetzbar? Wenn ja, was kostete sie?
Bevor Gordon ging, versprach er, den Sicherheitsaspekt noch einmal zu überdenken und in seinem Team zu besprechen. John signalisierte dafür die grundsätzliche Bereitschaft, bei Gordon zu investieren. Denn trotz seiner Wahrnehmungsstörungen war ihm eines doch absolut klar: Wenn es gelang, die Gefahren des Zeitreisens auf ein Minimum zu reduzieren, konnten mit dieser neuen Sparte des Tourismus Milliardengewinne erzielt werden.
In der Nacht wurde John von Albträumen geplagt. Er durchlebte noch einmal, wie Neya bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Er war Zeuge, wie ein Rudel Bluthunde sich auf wehrlose Indios stürzte. Er sah die spanischen Söldner sterben, da hingerafft von den Curare- Pfeilender Eingeborenen. Vor allem aber plagten John die Bilder der funkelnden Dämonenaugen, die ihm aus dem Dunkel des Waldes entgegenstarrten wie glühende Bernsteine.
Er schreckte aus dem Schlaf auf, mindestens das fünfte Mal in dieser Nacht. Seine Decke lag auf dem Fußboden neben dem Bett, durch das offene Schlafzimmerfenster drang kühle Luft. Dennoch klebte ihm der Pyjama schweißnass am Körper.
Er glaubte, ein Geräusch im Zimmer zu hören, und setzte sich auf. Durch die gekippten Jalousien drang genug Licht, um wenigstens Umrisse erkennen zu können, doch er sah nichts Ungewöhnliches. Links befand sich der Kleiderschrank, an der ihm gegenüberliegenden Wand eine wuchtige viktorianische Kommode, dazwischen die Tür. Von dort war das Geräusch gekommen, zumindest glaubte er das.
Neben ihm bewegte sich Laura im Schlaf. Sie wälzte sich auf die Seite, sodass sie jetzt mit dem Rücken zu ihm lag. Gleich darauf ging ihr Atem wieder ruhig und gleichmäßig. Beneidenswert.
John lauschte noch eine Weile in die Stille, hörte jedoch nicht mehr als den gedämpften Herzschlag der Großstadt: Autos, Züge, Flugzeuge, gelegentlich ein Martinshorn. Als er sicher war, wieder einmal nur Opfer seiner Einbildung geworden zu sein, stand er auf, um etwas zu trinken.
Ohne das Licht einzuschalten, holte er sich aus dem Kühlschrank eine Dose Budweiser, die er in einem einzigen gierigen Zug leerte. Die Kälte erfrischte ihn, und nach ein oder zwei Minuten setzte auch die leicht benebelnde Wirkung des Alkohols ein. Genau das, was er brauchte.
Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, standen die Leuchtziffern des Radioweckers auf 4:38 Uhr. Noch knapp
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